Neue juristische Dissertationen: Von Gesch­lech­ter­quoten und ver­stopften Gerichten

von Martin Rath

22.03.2020

6/8 Islamische Jurisprudenz – ein hierzulande unbekanntes Gebiet

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986), weithin bekannt durch einige böse Anspielungen in Umberto Ecos Mittelalter-Kriminalroman Der Name der Rose, hinterließ ein berühmtes – und natürlich frei erfundenes – Beispiel für eine orientalische Gelehrsamkeit, die dem Verstand des okzidentalen Durchschnittsakademikers unzugänglich bleibt, und zwar mit dem fiktiven Ordnungsmuster einer chinesischen Enzyklopädie, die unterscheide:

"a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben,  m) die von Weitem wie Fliegen aussehen."

Die Lektüre der umfangreichen Studie "Die Methodik der islamischen Jurisprudenz – Uṣūl al-fiqh" hat gute Chancen, auf die Leser ähnlich zu wirken wie Borges' künstliches Exotismusexempel. Wer mit einer eher bescheidenen Hermeneutik – den Savigny zugeschriebenen Auslegungsformen – ausgestattet aufs Juristenleben losgelassen wurde, kann hier reichhaltige Erörterungen zu einer exotisch anmutenden Normenwelt in einer fremden Systematik kennenlernen.

Zur Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Ähnlichkeit beispielsweise wird der als prophetisch überlieferte Satz herangezogen: "Trinkt nicht aus Gold- und Silberbechern und tragt weder Seide noch Seidenbrokat. Denn sie sind für sie in dieser Welt und für euch im Jenseits."

Ist diese Norm im engen Sinn wörtlich zu nehmen, was die Beschaffenheit von Trinkgefäßen und Textilien frommer Muslime betrifft oder gilt sie in einem erweiterten Sinn, als Verbot einer Erniedrigung armer Menschen? Führt eine Auslegung, die ähnliche, über Gefäße und Textilien hinausgehende Sachverhalte zu regeln beansprucht, fort von der authentischen Aussage des göttlichen Gesandten Mohammed? Oder ist sie gerade unentbehrlich?

Würden die rund 1,8 Milliarden Muslime weltweit den normativen Teil ihrer Konfession ernst nehmen, gliche die Diskussion unter ihnen wohl den vier Meinungen, die entstehen, wenn drei Juristen miteinander streiten – im Grunde eine doch sehr interessante Perspektive. Einen gründlichen Blick in die dazu entwickelte Hermeneutik erlaubt:

Nora Zeineddine: Die Methodik der islamischen Jurisprudenz – Uṣūl al-fiqh. Baden-Baden (Nomos) 2019. 522 Seiten.

Zitiervorschlag

Neue juristische Dissertationen: Von Geschlechterquoten und verstopften Gerichten . In: Legal Tribune Online, 22.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40985/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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