Neue juristische Dissertationen: Von Gesch­lech­ter­quoten und ver­stopften Gerichten

von Martin Rath

22.03.2020

8/8 Wenn das Gericht mal verstopft ist, ja was ist schon dabei?

Das Unvermögen der zivilisierten Menschheit sich mit Atemschutzmasken und Handschuhen zu konfektionieren, die Neuinfektionen mit einem eigentlich lächerlich kleinen Keim unterbinden – 128 Jahre, nachdem beispielsweise die Hamburger Behörden aufhörten, ihre Bürger zu zwingen, keimverseuchtes Trinkwasser zu konsumieren, 50 Jahre, nachdem der deutsch-amerikanische Tüftler Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun (1912–1977) die ersten einigermaßen tadellos keimfrei verpackten Menschen mit Hilfe von rund 2.500 Tonnen Treibstoff auf den Mond schoss – führt derzeit bekanntlich zu vollständigem gesellschaftlichem Stillstand und, was wirklich verstörend ist, atemlos dahingehechelten Forderungen, ihn für kritikfrei geboten zu halten.

In ihrer Studie Überlange Verfahrensdauer und Verhältnismäßigkeit befasst sich Sarah Isabell Eckhardt mit den Folgen überlanger Strafverfahren in normalen Zeiten – gegenwärtig ist man fast geneigt zu sagen: mit einem Phänomen, das hoffentlich sehr bald wieder als Regelbeispiel einer furchtbaren und furchtbar zähen Staatspraxis gelten darf.

Gilt für das reguläre Strafverfahren mit hinreichend guter Beweislage in modernen Zeiten der – nur für Nutzer von Boulevardmedien verstörende – Satz, dass das Gericht seine Zweifel an der Schuld des Angeklagten nicht strafmindernd berücksichtigen darf, verhält es sich bei einer überlangen Verfahrensdauer tendenziell anders: Seit der BGH im Jahr 2008 für Fälle einer Verfahrensverzögerung einen kompensatorischen Abschlag bei der Vollstreckung der Strafe ins Spiel gebracht hat, stellt sich die Frage, wie diese Kompensation – vom Abschlag bis zur Verfahrenseinstellung – sachgerecht mit Blick auf eine zu erwartende schuldangemessene Strafe zu ermitteln ist. Weiterhin ist zu fragen, wann das Gericht zu dieser Erkenntnis kommen muss und ob es selbst oder erst auf Betreiben von Verfahrensbeteiligten über eine Verfahrenseinstellung zu entscheiden hat.

Für das Hauptverfahren schlägt Eckhardt einen neuen § 206a Abs. 2 Strafprozessordnung vor: "Wenn nach Eröffnung des Hauptverfahrens absehbar ist, dass die Verfahrensfortführung zu unverhältnismäßigen Belastungen des Angeklagten führen wird, stellt das Gericht das Verfahren mit Zustimmung des Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung ein." Weitere Regelungsvorschläge mit gleicher Tendenz betreffen die übrigen Zeitabschnitte des Strafverfahrens.

Es wird – wenn hoffentlich demnächst der akademische Betrieb wieder voll aufgenommen wird – ein interessanter Nebenaspekt sein, ob gegen derartige Vorschläge noch polemisch eingewendet werden kann, hier kapituliere der Staat vor einer von ihm selbst geschaffenen Ineffizienz.

Sarah Isabell Eckhardt: Überlange Verfahrensdauer und Verhältnismäßigkeit. Baden-Baden (Nomos) 2020. 250 Seiten.

Zitiervorschlag

Neue juristische Dissertationen: Von Geschlechterquoten und verstopften Gerichten . In: Legal Tribune Online, 22.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40985/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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