Neue juristische Dissertationen: Von Gesch­lech­ter­quoten und ver­stopften Gerichten

von Martin Rath

22.03.2020

1/8 Geschlechterquoten im Gesellschaftsrecht

Diskussionen um die "tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter", die 1994 als Staatsziel in den Grundrechtsteil der Verfassung gelangt ist (Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz, GG) leiden oft stark unter einer anekdotischen Evidenz.

Politische Forderungen, die auf längere Sicht die Geschlechterverhältnisse nachhaltig verändern, finden eher wenig Gehör. Entsprechend wird beispielsweise nicht die Liberalisierung des Scheidungsrechts im Jahr 1977 für die Minderung von Gewalt in intimen Beziehungen gefeiert, sondern die Ausweitung von Tatbeständen des Sexualstrafrechts ("Vergewaltigungsparagraph") 20 Jahre später.

Den problematischen Zusammenhang zwischen der Geschlechterdifferenz in beruflicher Bildung und Einkommen einerseits, dem Ehegattenunterhalt und Zugewinnausgleich anderseits – was zwischen ca. 1970 und 1976 ein heiß diskutiertes Anliegen materieller Mündigkeit war – mag heute kaum jemand thematisieren.

Weil nicht derart langfristig und nachhaltig an der "tatsächlichen Durchsetzung" von Gleichberechtigung in den materiellen Verhältnissen gearbeitet wird, müssen es rechtspolitische Handhaben tun, die im Verdacht einer eher symbolischen Gesetzgebung stehen – beispielsweise die durch das "Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen und im öffentlichen Dienst" vom 24. April 2015 eingeführte Pflicht, unter anderem in mitbestimmungspflichtigen bzw. börsennotierten Aktiengesellschaften 30 Prozent der Aufsichtsratssitze mit Angehörigen des bisher unterrepräsentierten Geschlechts zu besetzen.

In ihrer Studie geht Anne Noltin zunächst der Frage nach, wie diese Regelung begründet wurde. Das verfassungsrechtliche Gebot bleibt hier sakrosankt. Was die sozialwissenschaftlichen Begründungen für Geschlechterquoten betrifft, bleiben Zweifel. Beispielsweise scheint die oft postulierte höhere Leistungsfähigkeit von "diversen" Unternehmen nicht allzu stark ausgeprägt zu sein. Doch legitimiert das Staatsziel der "tatsächlichen Durchsetzung" selbstverständlich die weiterführende Frage, ob eine Quotierung auch von Vorstandspositionen zulässig ist, und ihre gesetzliche Regelung.

Hier differenziert Noltin für die Aktiengesellschaften in privater Hand zwischen den großen Firmen, bei denen das für die Chromosomenausstattung von Vorstandsmitgliedern weitgehend blinde Kapitalanlageinteresse der Aktionäre überwiegt, und kleinen bzw. mittleren Unternehmen, bei denen eine Geschlechterquotierung – ähnlich wie bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder gar Personenhandelsgesellschaften – nicht nur an Grenzen der Praktikabilität, sondern auch der Verfassung stoße.

Anne Noltin: Frauen- oder Geschlechterquoten für den Vorstand von Aktiengesellschaften. Hamburg (Verlag Dr. Kovač) 2019. 218 Seiten.

Zitiervorschlag

Neue juristische Dissertationen: Von Geschlechterquoten und verstopften Gerichten . In: Legal Tribune Online, 22.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40985/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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