Von Frauenquoten im Gesellschaftsrecht über mietrechtliche BGH-Urteile und überlange Verfahrensdauern bis hin zur islamischen Jurisprudenz: Martin Rath liefert einen Überblick über neuere rechtwissenschaftliche Dissertationen.
Seit dem Promotionsvorhaben Karl-Theodor zu Guttenbergs sind geistes- und nicht zuletzt auch rechtswissenschaftliche Doktorarbeiten ins Gerede gekommen. Als Dokumente akademischen Standvermögens sind sie jedenfalls heute sinnvoller denn je.
Derzeit arbeiten zwischen 30.000 und 40.000 Menschen allein in den Geisteswissenschaften an ihrer Doktorarbeit. Und sie investieren von der ersten Vorfrage bis zum erfolgreichen Abschluss viele Jahre intellektueller Arbeit.
Was bei anderer Gelegenheit vielleicht als Inflation eines vom Erkenntnisgewinn nicht immer gedeckten akademischen Brauchtums kritisiert wird, nimmt sich dieser Tage fast als Monument persönlichen Durchhaltevermögens aus. Während allerorts Weltuntergangsängste aufkeimen, vermitteln die Werke der frischgebackenen Doktorinnen und Doktoren den Geist, dass es mit der Gesellschaft weitergeht – und sei es nur auf dem Gebiet der Rechtserkenntnis.
Einige, nicht alle der nachfolgend – nach dem Zufallsprinzip – ausgewählten Dissertationen sind auch in digitaler Form außerhalb von pestilenzgefährdeten Bibliotheken verfügbar. Hoffen wir, dass – nicht nur – über ihre Gegenstände alsbald wieder auf Augenhöhe und Rufweite akademisch gestritten werden kann.
1/8 Geschlechterquoten im Gesellschaftsrecht
Diskussionen um die "tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter", die 1994 als Staatsziel in den Grundrechtsteil der Verfassung gelangt ist (Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz, GG) leiden oft stark unter einer anekdotischen Evidenz.
Politische Forderungen, die auf längere Sicht die Geschlechterverhältnisse nachhaltig verändern, finden eher wenig Gehör. Entsprechend wird beispielsweise nicht die Liberalisierung des Scheidungsrechts im Jahr 1977 für die Minderung von Gewalt in intimen Beziehungen gefeiert, sondern die Ausweitung von Tatbeständen des Sexualstrafrechts ("Vergewaltigungsparagraph") 20 Jahre später.
Den problematischen Zusammenhang zwischen der Geschlechterdifferenz in beruflicher Bildung und Einkommen einerseits, dem Ehegattenunterhalt und Zugewinnausgleich anderseits – was zwischen ca. 1970 und 1976 ein heiß diskutiertes Anliegen materieller Mündigkeit war – mag heute kaum jemand thematisieren.
Weil nicht derart langfristig und nachhaltig an der "tatsächlichen Durchsetzung" von Gleichberechtigung in den materiellen Verhältnissen gearbeitet wird, müssen es rechtspolitische Handhaben tun, die im Verdacht einer eher symbolischen Gesetzgebung stehen – beispielsweise die durch das "Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen und im öffentlichen Dienst" vom 24. April 2015 eingeführte Pflicht, unter anderem in mitbestimmungspflichtigen bzw. börsennotierten Aktiengesellschaften 30 Prozent der Aufsichtsratssitze mit Angehörigen des bisher unterrepräsentierten Geschlechts zu besetzen.
In ihrer Studie geht Anne Noltin zunächst der Frage nach, wie diese Regelung begründet wurde. Das verfassungsrechtliche Gebot bleibt hier sakrosankt. Was die sozialwissenschaftlichen Begründungen für Geschlechterquoten betrifft, bleiben Zweifel. Beispielsweise scheint die oft postulierte höhere Leistungsfähigkeit von "diversen" Unternehmen nicht allzu stark ausgeprägt zu sein. Doch legitimiert das Staatsziel der "tatsächlichen Durchsetzung" selbstverständlich die weiterführende Frage, ob eine Quotierung auch von Vorstandspositionen zulässig ist, und ihre gesetzliche Regelung.
Hier differenziert Noltin für die Aktiengesellschaften in privater Hand zwischen den großen Firmen, bei denen das für die Chromosomenausstattung von Vorstandsmitgliedern weitgehend blinde Kapitalanlageinteresse der Aktionäre überwiegt, und kleinen bzw. mittleren Unternehmen, bei denen eine Geschlechterquotierung – ähnlich wie bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder gar Personenhandelsgesellschaften – nicht nur an Grenzen der Praktikabilität, sondern auch der Verfassung stoße.
Anne Noltin: Frauen- oder Geschlechterquoten für den Vorstand von Aktiengesellschaften. Hamburg (Verlag Dr. Kovač) 2019. 218 Seiten.
2/8 Freiheit der Literatur wird nicht ernstgenommen
Als nach der berühmten "Mephisto"-Entscheidung vom 24. Februar 1971 aus Literaturwissenschaft und Feuilleton kritische Stimmen laut wurden, das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Interpretation von Klaus Manns Mephisto – Roman einer Karriere aus dem Jahr 1936 die autonome Leistung der Literatur als Kunst nicht hinreichend gewürdigt, ließ sich der Staatsrechtler Ernst Forsthoff (1902–1974) mit Zweifeln ein, ob der Literaturwissenschaft überhaupt über den Weg zu trauen sei:
"Der Sachverständige in Angelegenheiten der Kunst ist mit dem des medizinischen oder technischen Sachverständigen, der in nachprüfbaren logischen Operationen mit Fakten zu tun hat, nur bedingt vergleichbar. Subjektive Einfärbungen sind bei Urteilen in Angelegenheiten der Kunst nicht zu vermeiden, und man darf auf Grund empirischer Erfahrung als Regel nehmen, daß diese Einfärbungen im Maße der Beteiligung am Kunstgeschehen zunehmen und sich damit von der objektiven Beurteilung um so weiter entfernen."
In Verfahren, die wegen der Behauptung geführt werden, ein Roman verletze die prä- oder postmortale Wertschätzung von Menschen, die für Figuren der Erzählung Modell gewesen sein könnten, ziehen Gerichte offenkundig weit weniger literaturwissenschaftliche Gutachter heran als zu erwarten wäre – möglicherweise weniger unter Bezugnahme auf Forsthoffs Idee, die Künstler steckten im Zweifel ohnehin unter einer Decke, als aus der richterlichen Überzeugung, sich kraft eigener Lektüre selbst ein hinreichend tragfähiges Bild vom jeweiligen Roman machen zu können.
Mit ihrer Dissertation legt Sandra Westphal nicht die x-te Studie zur Dogmatik der Kunstfreiheit im Spannungsverhältnis zu prä- und postmortalen Persönlichkeitsrechten vor, sondern widmet sich ausgesuchten Streitfällen zu mutmaßlichen Schlüsselromanen aus der Perspektive, dass Literatur- und Rechtswissenschaft als Texte interpretierende Fächer sehr viel gemeinsam haben und um eine hermeutisch eng verwandte "Deutungshoheit" kämpften.
Interessant ist diese Studie damit nicht nur für Verlagsjustiziare, die strittige Werke der Literatur auf den Markt bringen helfen, sondern insbesondere auch für alle, die aus der traditionell eher dürftigen Auseinandersetzung des Jurastudiums mit den Grundsätzen der Textinterpretation herauswachsen möchten.
Sandra Westphal: Deutungshoheit über Texte. Eine Analyse des rechtswissenschaftlichen Diskurses über Literatur. Baden-Baden (Nomos) 2019. 440 Seiten.
3/8 Migration und Integration durch Recht
Mit ihrer 2019 publizierten und im Jahr zuvor abgeschlossenen rechtswissenschaftlichen Dissertation legt die in Bolivien und Deutschland studierte Juristin Maria Luisa Mariscal de Körner einen Vergleich vor, der die Erfahrungen und Einstellungen mexikanischer 'Gastarbeiter' in den USA und türkischer 'Gastarbeiter' in Deutschland zieht und die jeweiligen rechtlichen Arrangements referiert.
Bemerkenswert ist die – teils durch Interviewerhebungen unter jeweils rund 80 'Gastarbeitern' und ihren Familien in Deutschland und in den USA (inkl. Rückkehrern nach Mexiko) gestützte –Ähnlichkeit von Migrationserfahrungen beider Gruppen. Dies ungeachtet des viel beschworenen Umstands, dass sich die USA angeblich von jeher als Einwanderungsland verstanden hätten.
Für beide Gruppen von 'Gastarbeitern' zu sprechen legitimiert sich aus dem Umstand, dass nicht nur die westdeutschen Anwerbeabkommen seit 1955 zunächst vom zeitlich limitierten Aufenthalt ausgingen, sondern sich auch die USA der mexikanischen Arbeitskräfte wiederholt – im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg – als Reserve insbesondere für die Landwirtschaft versicherten und die Betroffenen teils rigide wieder außer Landes schafften, sobald sie ihre ökonomische Schuldigkeit getan hatten.
Als Fortschreibung beispielsweise zur Dissertation von Ines Sabine Roellecke aus dem Jahr 1999, die nicht zuletzt aus dem Vergleich deutscher und amerikanischer Rechtsgeschichte "Gerechte Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitskriterien" abzuleiten vorschlug, dient diese neue Studie leider nicht.
Ein vergleichender Blick auf die amerikanisch-mexikanische Migrationsrechtsgeschichte einerseits sowie die Regelungen zur Migration zwischen west- bzw. zentraleuropäischen Staaten und insbesondere der Mittelmeerregion andererseits könnte durchaus fruchtbar sein. So stiefmütterlich, wie das verfassungs-, rechts- und wirtschaftspolitische Interesse an den Staaten des Mittelmeerraums hierzulande ist, wird das aber wohl erst erwachen, wenn die Marine der chinesischen Volksbefreiungsarmee auch dort Inseln aufschüttet.
Maria Luisa Mariscal de Körner: Migration und Integration durch Recht. Eine vergleichende Studie zu mexikanischen Gastarbeitern in den USA und türkischen Gastarbeitern in Deutschland. Berlin (Peter Lang) 2019. 216 Seiten.
4/8 Richter müssen nicht immer Blut sehen
Seit dem 1. Januar 1934 regelte § 81a Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) die "Entnahme von Blutproben" ohne Einwilligung des Beschuldigten, die – ungeachtet der von liberalen Bedenken freien NS-Gesetzgebung – bereits damals nach Absatz 3 der Vorschrift regelmäßig unter Richtervorbehalt stand.
Im historischen Aufriss zu ihrer dogmatischen Detailstudie Der Richtervorbehalt bei der Blutprobenentnahme gemäß § 81a Abs. 2 StPO erklärt Theresa Regina Disselkamp, dass die juristische Fachliteratur die Befugnis zur Blutentnahme überschwänglich begrüßt habe – ungeachtet des Umstands, dass jedenfalls die zugrunde liegende naturwissenschaftliche Methode der Blutalkoholbestimmung erst wenige Jahre zuvor von einem schwedischen Mediziner entwickelt worden war. Am Richtervorbehalt störte man sich überdies nicht weiter. In den ersten Jahren wurde diese juristische Formalie dem Zeitgeist entsprechend offenbar weitgehend missachtet. Wozu der Vorbehalt gut sei, wurde von "Praktikerseite" seit Entstehung der Norm immer wieder in Frage gestellt.
Für einige Verkehrsdelikte hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 eine Ausnahme von der Notwendigkeit der richterlichen Anordnung geregelt. Fraglich ist, ob er gut daran tat.
Denn von der faktischen Seite kann am Sinn des Richtervorbehalts gezweifelt werden: Je stärker die Beweissicherung gefährdet ist, weil der Beschuldigte möglicherweise nur schwach mit psychotropen Substanzen intoxiniert ist, desto dringlicher stellt sich die Blutentnahme dar. Gerade in solchen Grenzfällen wäre jedoch eine Supervision der Polizeiarbeit durch Staatsanwaltschaft oder Richter sinnvoll.
Disselkamp schlägt vor, den zweiten Satz aus § 81a Abs. 2 StPO zu streichen. Der Schutz des Beschuldigten vor willkürlicher und unverhältnismäßiger Beweiserhebung erfolgte weiterhin auf der Ebene von Verwertungsverboten.
Und daran, dass nicht der Richtervorbehalt an sich, sondern die wahrgenommene Pflicht zum kritischen Widerspruch den liberalen Rechtsstaat ausmacht, lässt sich mit Blick auf die Normgeschichte kaum rücken.
Theresa Regina Disselkamp: Der Richtervorbehalt bei der Blutprobenentnahme gemäß § 81a Abs. 2 StPO. Baden-Baden (Nomos) 2019. 330 Seiten.
5/8 Ersatzvornahme: Monumentale Analyse eines altbekannten Instruments
"Wird die Verpflichtung, eine Handlung vorzunehmen, deren Vornahme durch einen anderen möglich ist (vertretbare Handlung), nicht erfüllt, so kann die Vollzugsbehörde einen anderen mit der Vornahme der Handlung auf Kosten des Pflichtigen beauftragen."
Was in den knappen Worten von § 10 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz (VwVG) des Bundes und den vielen verwandten oder identischen Normen des Landesrechts formuliert wird, bildet die Rechtsgrundlage für eine oft verwendete Handlungsform der öffentlichen Verwaltung: die Ersatzvornahme.
Das Verwaltungsvollstreckungsrecht genieße – wie Rabea Kjellsson den Freiburger Verfassungsrechtler Ralf Poscher zustimmend zitiert – im Vergleich zum zivilrechtlichen Vollstreckungsrecht ein "Schattendasein", aus dem sie es mit ihrer sehr umfangreichen Dissertation unter dem Titel Das Zwangsmittel der Ersatzvornahme hinausführt.
Vermutlich ist dem Umstand, dass das Instrument zwar insgesamt nicht selten angewendet, die Vertreter ungezählter Behörden im konkreten Einzelfall aber ungeübt sein können, eine gewisse Unsicherheit geschuldet: Dass beispielsweise ein von Rechts wegen zu beseitigendes Haus auch von anderen Personen abgerissen werden kann als vom Eigentümer höchstselbst, gehört etwa zu den einfachen Beispielen aus dem juristischen Subsumtions-Bilderbuch. Ob es sich aber bei der Herausgabe einer Sache oder der Abgabe einer Willenserklärung um eine "vertretbare Handlung" im Sinne der Norm handeln kann, lässt sich diskutieren und wird von den Gerichten in ihren wettbewerbsförderalistischen Verwaltungsrechtssprengeln auch nicht einheitlich entschieden.
Vom Augenblick an, in dem eine Behörde "einen anderen" beauftragt, stellen sich – zumal angesichts des wirtschaftlichen Werts, den viele Ersatzvornahme-Handlungen betreffen – Fragen der Auswahl, der Beaufsichtigung und der Haftung. Kann sich ein Unternehmer, der im Wege der Ersatzvornahme tätig wird, beispielsweise auf das Haftungsprivileg aus Artikel 34 Grundgesetz (GG) berufen?
Auch wenn Umfang und Informationsdichte der Dissertation an die eines juristischen Kommentars heranreichen: Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Teleologie des Rechtsinstituts ist sie alle Male flüssiger zu lesen. Eigentlich müsste letzteres doch jeder tun, der von der Dezernenten- oder Dozenten-Ebene aufwärts mit Ersatzvornahmen zu tun hat.
Rabea Kjellsson: Das Zwangsmittel der Ersatzvornahme. Vollstreckung, Kosten, Haftung. Berlin (Duncker & Humblot). 590 Seiten.
6/8 Islamische Jurisprudenz – ein hierzulande unbekanntes Gebiet
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986), weithin bekannt durch einige böse Anspielungen in Umberto Ecos Mittelalter-Kriminalroman Der Name der Rose, hinterließ ein berühmtes – und natürlich frei erfundenes – Beispiel für eine orientalische Gelehrsamkeit, die dem Verstand des okzidentalen Durchschnittsakademikers unzugänglich bleibt, und zwar mit dem fiktiven Ordnungsmuster einer chinesischen Enzyklopädie, die unterscheide:
"a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben, m) die von Weitem wie Fliegen aussehen."
Die Lektüre der umfangreichen Studie "Die Methodik der islamischen Jurisprudenz – Uṣūl al-fiqh" hat gute Chancen, auf die Leser ähnlich zu wirken wie Borges' künstliches Exotismusexempel. Wer mit einer eher bescheidenen Hermeneutik – den Savigny zugeschriebenen Auslegungsformen – ausgestattet aufs Juristenleben losgelassen wurde, kann hier reichhaltige Erörterungen zu einer exotisch anmutenden Normenwelt in einer fremden Systematik kennenlernen.
Zur Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Ähnlichkeit beispielsweise wird der als prophetisch überlieferte Satz herangezogen: "Trinkt nicht aus Gold- und Silberbechern und tragt weder Seide noch Seidenbrokat. Denn sie sind für sie in dieser Welt und für euch im Jenseits."
Ist diese Norm im engen Sinn wörtlich zu nehmen, was die Beschaffenheit von Trinkgefäßen und Textilien frommer Muslime betrifft oder gilt sie in einem erweiterten Sinn, als Verbot einer Erniedrigung armer Menschen? Führt eine Auslegung, die ähnliche, über Gefäße und Textilien hinausgehende Sachverhalte zu regeln beansprucht, fort von der authentischen Aussage des göttlichen Gesandten Mohammed? Oder ist sie gerade unentbehrlich?
Würden die rund 1,8 Milliarden Muslime weltweit den normativen Teil ihrer Konfession ernst nehmen, gliche die Diskussion unter ihnen wohl den vier Meinungen, die entstehen, wenn drei Juristen miteinander streiten – im Grunde eine doch sehr interessante Perspektive. Einen gründlichen Blick in die dazu entwickelte Hermeneutik erlaubt:
Nora Zeineddine: Die Methodik der islamischen Jurisprudenz – Uṣūl al-fiqh. Baden-Baden (Nomos) 2019. 522 Seiten.
7/8 Woher hat der Bundesgerichtshof hier nur seine Einsichten?
Keinen Anlass, die Kunst normativer Labyrinthe allein in näheren oder ferneren Orient zu verorten, hat, wer den Bundesgerichtshof (BGH) kennt.
Für den Fall, dass die Fläche angemieteter Wohnräume um mehr als zehn Prozent von der vertraglichen Vereinbarung abwich, entwickelte der BGH im Jahr 2004 die sogenannte 10-Prozent-Toleranzgrenze, an der das Gericht in 30 Entscheidungen zu Flächendifferenzen festhielt, und zwar – so eine Studie zu dieser Rechtsprechung – ungeachtet von nicht geringem Personalwechsel in der Richterschaft.
Im Jahr 2015 änderte sich die Auffassung in Fragen der Mieterhöhung nach § 558 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) jedoch schon wieder. Auch während an der Dissertation Die 10%-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Wohnraummiete noch geforscht wurde, entwickelte der BGH seine Auffassungen zur Toleranzgrenze auf dem Gebiet des Nebenkostenrechts weiter.
Anuschka Radom legt in ihrer Studie – was insbesondere in Zeiten allzu beweglicher Rechtsprechung einigen Charme hat – prinzipielle Erwägungen dar, beispielsweise den Grundsatz, dass das Wort "Wohnfläche" kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff sei. Neben der verbindlichen Berechnungsmethode für preisgebundenen Wohnraum komme in Betracht, dass sich die Vertragsparteien auch über die Berechnungsmethode verständigt haben. Angesichts von Schätzungen, nach denen 60 bis 80 Prozent aller Flächenangaben in Mietverträgen unzutreffend sein sollen, liegt die Vermutung ja nicht fern, dass "groß genug" und "schön genug" die entscheidenden Kriterien sind, sobald der Preis der Wohnung stimmt. Um es dabei nicht zu belassen: "Soweit die Parteien keine besondere Abrede hierzu getroffen haben, ist davon auszugehen, dass die angegebene Quadratmeterzahl den Soll-Zustand der Wohnung konkretisiert und deshalb eine verbindliche Beschaffenheitsvereinbarung darstellt."
Im Übrigen muss Radom ihre Darstellung der vom BGH gebotenen mietrechtlichen Orientierung mit einem schönen Satz einleiten, der frühere Juristengenerationen tief verletzt hätte: "Der BGH praktiziert im Hinblick auf Flächenabweichungen zur Zeit folgende Rechtsprechung …"
Durch das zur Zeit der Doktorwerdung vom BGH feilgebotene Wohnraummietrechtslabyrinth leitet:
Anuschka Radom: Die 10%-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Wohnraummiete. Berlin (wvb). 358 Seiten.
8/8 Wenn das Gericht mal verstopft ist, ja was ist schon dabei?
Das Unvermögen der zivilisierten Menschheit sich mit Atemschutzmasken und Handschuhen zu konfektionieren, die Neuinfektionen mit einem eigentlich lächerlich kleinen Keim unterbinden – 128 Jahre, nachdem beispielsweise die Hamburger Behörden aufhörten, ihre Bürger zu zwingen, keimverseuchtes Trinkwasser zu konsumieren, 50 Jahre, nachdem der deutsch-amerikanische Tüftler Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun (1912–1977) die ersten einigermaßen tadellos keimfrei verpackten Menschen mit Hilfe von rund 2.500 Tonnen Treibstoff auf den Mond schoss – führt derzeit bekanntlich zu vollständigem gesellschaftlichem Stillstand und, was wirklich verstörend ist, atemlos dahingehechelten Forderungen, ihn für kritikfrei geboten zu halten.
In ihrer Studie Überlange Verfahrensdauer und Verhältnismäßigkeit befasst sich Sarah Isabell Eckhardt mit den Folgen überlanger Strafverfahren in normalen Zeiten – gegenwärtig ist man fast geneigt zu sagen: mit einem Phänomen, das hoffentlich sehr bald wieder als Regelbeispiel einer furchtbaren und furchtbar zähen Staatspraxis gelten darf.
Gilt für das reguläre Strafverfahren mit hinreichend guter Beweislage in modernen Zeiten der – nur für Nutzer von Boulevardmedien verstörende – Satz, dass das Gericht seine Zweifel an der Schuld des Angeklagten nicht strafmindernd berücksichtigen darf, verhält es sich bei einer überlangen Verfahrensdauer tendenziell anders: Seit der BGH im Jahr 2008 für Fälle einer Verfahrensverzögerung einen kompensatorischen Abschlag bei der Vollstreckung der Strafe ins Spiel gebracht hat, stellt sich die Frage, wie diese Kompensation – vom Abschlag bis zur Verfahrenseinstellung – sachgerecht mit Blick auf eine zu erwartende schuldangemessene Strafe zu ermitteln ist. Weiterhin ist zu fragen, wann das Gericht zu dieser Erkenntnis kommen muss und ob es selbst oder erst auf Betreiben von Verfahrensbeteiligten über eine Verfahrenseinstellung zu entscheiden hat.
Für das Hauptverfahren schlägt Eckhardt einen neuen § 206a Abs. 2 Strafprozessordnung vor: "Wenn nach Eröffnung des Hauptverfahrens absehbar ist, dass die Verfahrensfortführung zu unverhältnismäßigen Belastungen des Angeklagten führen wird, stellt das Gericht das Verfahren mit Zustimmung des Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung ein." Weitere Regelungsvorschläge mit gleicher Tendenz betreffen die übrigen Zeitabschnitte des Strafverfahrens.
Es wird – wenn hoffentlich demnächst der akademische Betrieb wieder voll aufgenommen wird – ein interessanter Nebenaspekt sein, ob gegen derartige Vorschläge noch polemisch eingewendet werden kann, hier kapituliere der Staat vor einer von ihm selbst geschaffenen Ineffizienz.
Sarah Isabell Eckhardt: Überlange Verfahrensdauer und Verhältnismäßigkeit. Baden-Baden (Nomos) 2020. 250 Seiten.
Neue juristische Dissertationen: Von Geschlechterquoten und verstopften Gerichten . In: Legal Tribune Online, 22.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40985/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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