100 Jahre Rechts- und Justizgeschichte: Ver­ges­sene Sta­tionen

von Martin Rath

01.01.2018

Gemeinfrei

9/10: 1998: Bürgermeister von Beijing wegen Korruption verurteilt

Inspiriert von den Reformbestrebungen in der Sowjetunion und den Bürgerbewegungen in Polen oder in Ungarn breitete sich 1989 in der Volksrepublik China eine ursprünglich studentische Demokratiebewegung aus.

Am 3. und 4. Juni 1989 wurden Proteste im Zentrum von Beijing durch das Militär niedergeschlagen. Dem Tian’anmen-Massaker seitens der sogenannten Sicherheitskräfte fielen nach Schätzungen von Amnesty International mehrere hundert, möglicherweise mehrere tausend Menschen zum Opfer.

Die politische Justiz der Volksrepublik China erhält seither auch im westlichen Ausland erstaunlich wenig Aufmerksamkeit seitens der für kritische Positionen üblichen Verdächtigen. 2017 dürfte in der Summe selbst über die Zahnprothetik des US-Präsidenten mehr berichtet worden sein als über das neue chinesische Modell der totalen Verhaltenskontrolle.

Im Fall von Chen Xitong (1930–2013), der zwischen 1983 und 1995 als Bürgermeister von Beijing amtierte, kreuzen sich die Linien der jüngeren chinesischen (Rechts-) Geschichte auf eigentümliche Weise.

Im Jahr 1989 hatte sich Chen für die gewaltsame Unterdrückung der Proteste ausgesprochen. Einerseits war dies für einen kommunistischen Funktionär des Jahrgangs 1930 nachvollziehbar, hatte er doch die von Mao Zedong 1966 ausgerufene sogenannte Kulturrevolution miterlebt – den vor allem von jungen Menschen veranstalteten Aufruhr, der mit ungeheurer Brutalität und der Verletzung zivilisatorischer Mindeststandards einherging.

Andererseits garantiert die chinesische Verfassung von 1982 die Redefreiheit, kommunistische Partei und Militär handelten mithin 1989 mutmaßlich, so viel Formalismus muss sein, verfassungswidrig.

Sein Amt verlor Chen 1995, als er unter Korruptionsanklage gestellt und zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde. Ihm wurde zum Verhängnis, dass das chinesische Modell die westliche Demokratie ablehnt – denn Parlamentarismus dient bekanntlich, was in Zeiten hoch idealistischer Demokratietheorien gerne vergessen wird, auch einer zivilen "Peer Review" gesellschaftlicher Eliten und dem Schutz ihrer persönlichen Freiheiten.

Nach elfjähriger Haft aus Gesundheitsgründen in Freiheit gekommen, machte Chen noch einmal von sich Reden, als er das Massaker von 1989 bedauerte. Man mag das ironisch nennen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, 100 Jahre Rechts- und Justizgeschichte: Vergessene Stationen . In: Legal Tribune Online, 01.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26235/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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