Zigaretten, Alkohol, Kaffee, Sex und Spalterflagge: His­to­ri­sche Neben­g­leise des Eisen­bahn­rechts

von Martin Rath

10.03.2024

Das Recht der deutschen Eisenbahnen kennt mehr Details als selbst der eifrigste Modelleisenbahnfreund auf seine Platte im Hobbykellerraum kleben kann. Stauben wir eine kleine Auswahl ab – vom Zigarettenjagdtrieb bis zum zügellosen Streik.

Wenige Menschen befeuern so energisch die Sehnsucht, die öffentliche Hand möge noch mehr Personal in den Dienst nehmen, das auf den Staat eingeschworen ist, wie Claus Weselsky (1959–), der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL).

Gern erinnert man sich an eine Zeit zurück, in der die Triebfahrzeuginsassen vorzugsweise ihre stählernen Rösser befeuerten und stellt sich vor, dass es in einer Welt ordentlich verbeamteter Lokomotivführer (m/w/d) keine Streiks mehr geben werde – ganz so, wie es in der guten alten Zeit gewesen sein soll, als der deutsche Bahnbetrieb noch von Kopf bis Fuß auf Staatsdienst eingestellt war.

Tatsächlich gibt es in der historischen Rechtsprechung nicht wenige Aussagen zum Dienst des Bahnbeamten, vor denen staatstreue Seelen schon einmal innerlich strammstehen möchten. Das ist alles nicht einmal ansatzweise "examensrelevant" – aber mit Sicherheit unterhaltsamer als manche Modelleisenbahnerplatte oder sich am Bahnsteig die Beine in den Bauch zu stehen.

Fall 1: Bahnbeamte müssen dem Vertrauen der Öffentlichkeit gerecht werden

Am Morgen des 26. November 1953, gegen 5.15 Uhr, entdeckten drei Beamte der Deutschen Bundesbahn auf dem Gelände des Bahnhofs Mannheim-Waldorf zwischen den Gleisen eine beachtliche Menge von Zigaretten, lose und in Schachteln verpackt, die offenbar aus einem beschädigten Transport stammten. Statt dies zu melden, nahmen sie und ein weiterer Kollege zwischen zwölf und 720 Stück Zigaretten an sich, auch Fahrgäste griffen zu.

Im Disziplinarverfahren verurteilte sie die Bundesdisziplinarkammer (Karlsruhe) zu milden Geldstrafen bzw. zu einer Gehaltskürzung um zehn Prozent für ein Jahr.

Das war erstaunlich, weil die Disziplinargerichte allgemein, oft mit rhetorischer Inbrunst, den Grundsatz vertraten, dass in einem solchen Fall von Diebstahl oder Unterschlagung zwingend eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erfolgen müsse.

In der auf das Strafmaß beschränkten Berufung erhöhte der Bundesdisziplinarhof (BDH) die Sanktionen erheblich, alle vier Bahnbeamten mussten nun eine Gehaltskürzung um zehn Prozent für ein bis zwei Jahre hinnehmen.

Um diese Ausnahme von ihrem sonst harsch vertretenen Grundsatz zu begründen, dass Diebe zwingend aus dem Dienst entfernt gehörten, hielten die Richter den Beschuldigten zugute, dass sie "gerade mit dem ersten Zuge zur Aufnahme ihres Dienstes auf dem Bahnhof angekommen waren, selbst noch etwas verschlafen und geistig nicht so rege waren, um sich die ganze Tragweite ihres Verhaltens klarzumachen".

Es kam hinzu, dass beim gierigen Aufsammeln der Zigaretten auch Fahrgäste beteiligt waren. Die Richter fühlten sich an beschämende Szenen vor Einführung der Deutschen Mark erinnert, als Zigaretten auf dem Schwarzmarkt noch als Währung gedient hatten – eine Szene mit Jagdinstinkt, ganz wie heute im Urlaub am Frühstücksbuffet.

Auf einen ausführlichen Apell ans Gewissen der Bahnbeamten mochten die Richter aber natürlich nicht verzichten: "Die Bahnverwaltung ist, wie z. B. auch die Post- und Finanzverwaltung, weitgehend auf die absolute Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit ihrer Beamten angewiesen, wenn sie ihre Aufgaben gegenüber den Verkehrstreibenden und der Allgemeinheit erfüllen will. Nicht zuletzt aus diesem Grunde werden in diesen Verwaltungen sogar in einfacheren Tätigkeiten in größerem Maßstabe als sonst in öffentlichen Verwaltungen Beamte beschäftigt, weil von Beamten traditionsgemäß im besonderen Maße jene Eigenschaften der absoluten Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Ehrlichkeit erwartet werden. Das gilt auch für die Beamten des Rangierdienstes" (Urt. v. 04.12.1957, Az. I D 76/55).

Erst als Beamter wird der Mensch zur ganz besonderen Vertrauensperson, ob nun im Finanzamt, bei der Post oder der Deutschen Bundesbahn. Da hatten Richter noch eine Idee von der "Corporate Identity" des Staatsbetriebs. Interessant nur, wie wenig dieses Pathos noch wert war, als in den 1990er Jahren Staatspost und -bahn formal privatisiert wurden.

Fall 2: Wenig Nachsicht bei offenkundigem Alkoholismus

Weniger milde, vielmehr explizit negativ beurteilt wurde wiederholte Müdigkeit bei Dienstantritt, verbunden mit Verspätungen und einer auffälligen Neigung zum Alkohol. Einem betroffenen Bahnbeamten, der ohne weitere Umstände aus dem Beamtenverhältnis entfernt wurde, gab der Bundesdisziplinarhof mit Urteil vom 16. Februar 1960 noch mit auf den Weg, dass er sich auf "seinen beeinträchtigten Nervenzustand" nicht berufen könne, weil er ihn "durch seinen unsoliden Lebenswandel selbst verschuldet habe" (Az. II D 44/59).

Das Urteil beschreibt Szenen aus dem Leben eines offenbar alkoholabhängigen Bahnbeamten, der von seinen Vorgesetzten unter Druck gesetzt wird und wohl auch deshalb trinkt. "Kybernetik" war in den 1960er Jahren ein magisches Fremdwort, Rückkopplungseffekte zählten noch nicht.

Acht Jahre später sollte das Bundessozialgericht Alkoholismus als Krankheit anerkennen (Urt. v. 18.06.1968, Az. 3 RK 63/66). Bis 1968 konnte, ja musste er als Charakter- und Willensschwäche disziplinarrechtlich gemaßregelt werden. Es findet sich eine sehr hohe Zahl von Verfahren, oft betrieben gegen Post- und Bahnbeamte, sehr häufig frühere Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg – eine Schnittmenge aus Gewalt- und Suchtgeschichte in Deutschland – die sich dann vom Disziplinar- ins Sozialrecht verabschiedete.

Fall 3: Partisanen-Abwehr "im Osten" versus Kaffee für Heimatlose

Eine Entfernung von gleich 13 Bahnbeamten aus dem Dienst wegen Diebstahls eines äußerst wertvollen Luxusprodukts dokumentiert ein Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 18. April 1956 (Az. III D 129/54): Ein Zug, der im August 1947 eine Ladung Kaffee im Auftrag der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) von den Niederlanden in die Tschechoslowakei beförderte, war im Streckenabschnitt zwischen Köln und Bingen wohl gleich wiederholt beraubt worden.

Die französische Militärjustiz, zuständig für den Gleisbetrieb südlich von Bonn, hatte gegen jene, die sie aufgreifen konnte, harsch geurteilt. Nachvollziehbar, denn betroffen waren immerhin Güter der UN, die unter heimatlosen und entwurzelten Menschen verteilt wurden. Die UNRRA war in Europa namentlich für "Displaced Persons" zuständig.

Trotz der notorischen Vorbehalte deutscher Richter gegen die alliierte Militärjustiz wurden die beteiligten Bahnbeamten ganz überwiegend aus dem Dienst entfernt. In einem Fall hielt der Bundesdisziplinarhof jedoch dem Beschuldigten zugute, dass er "einige Jahre vor dieser Tat unter Einsatz seines Lebens öffentliche Güter vor der Vernichtung bewahrt hatte". Der Eisenbahner war 1942 in der Sowjetunion eingesetzt worden, sein damaliger Diensteifer hatte sich im Schutz seines Zuges gegen Partisanen "im Osten" bewiesen.

Fall 4: Homosexualität im bayerischen Bahnbetrieb

Dass junge Kollegen eine Abneigung zeigten, mit ihm Nachtdienst zu leisten, zudem eine Anzahl homosexueller Vorgänge und der Umstand, dass er "seine Verfehlungen in den weitaus meisten Fällen während seines Dienstes und in Diensträumen begangen", "sogar während eines Zeitraumes, in dem er acht Züge in beiden Richtungen betrieblich abzufertigen gehabt" hatte, führten im Fall eines Bahnbeamten zur Entfernung aus dem Dienst (BDH, Urt. v. 24.10.1957, Az. I D 9/56).

Zur Entlassung kam es, trotz vieler Fälle sexuellen Fehlverhaltens im und außerhalb des Dienstes, hier erst in der Berufungsinstanz. Die für Franken zuständige  Bundesdisziplinarkammer V hatte es bei einer disziplinarischen Versetzung und Degradierung belassen wollen, auch mit Rücksicht auf die kranke Frau und die 15-jährige Tochter des beschuldigten Bahnbeamten. Erst der Bundesdisziplinarhof griff zur schärfsten Sanktion, der Entlassung aus dem Dienst.

Man mag den 1950er Jahren den Muff einer restaurativen Epoche vorhalten. Doch war der Muff mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Und manchmal fragt sich, ob es überhaupt Muff war, der die Staatsgewalt umwehte.

Fall 5: Eisenbahner, noch unbeliebter als Claus Weselsky?

Über eine kuriose Sache aus Berlin entschied der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 7. Februar 1961 (Az. 5 StR 483/60).

Die Verantwortung für den Bahnbetrieb auf dem Gebiet von Groß-Berlin blieb, ungeachtet der Teilung der Stadt unter den vier alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, in der Verantwortung der Deutschen Reichsbahn, deren östlicher Überrest als Staatsbahn der DDR fungierte.

Insbesondere vor dem Mauerbau demonstrierte die DDR-Reichsbahn gerne auch im Westteil Berlins Präsenz. Als beispielsweise am S-Bahnhof Tempelhof, also zweifelsfrei in Berlin (West), die "Spalterflagge" – Schwarz-Rot-Gold mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz – aufgezogen wurde, schickten sich Polizeibeamte aus Berlin (West) an, sie zu entfernen, während die Angeklagten, Angehörige der "sowjetzonalen" Reichsbahn, dagegen Widerstand leisteten.

Der BGH bejahte die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Polizisten, begründet aus preußischem Polizeirecht, und gestand den "sowjetzonalen" Reichsbahnbediensteten auch keinen Spielraum für einen Rechtsirrtum zu: Durch ihren Dienst auf Bahnhöfen mit Fahrgästen aus Berlin (West) und Berlin (Ost) hätten sie um die Hoheitsrechte wissen müssen. Und im Übrigen lebten sie selbst im Westteil der Stadt.

Gute Kandidaten für die unbeliebtesten Eisenbahner Deutschlands: Beamte im Dienst der DDR- Reichsbahn, die in Berlin (West) wohnten.

Fall 6: Ost-westlicher Eisenbahner lässt an Loyalität zweifeln

Der Eisenbahner in diesem Fall hatte 1951, als Mann von 33 Jahren, die Erlaubnis erhalten, seinen ständigen Wohnsitz im Bundesgebiet zu nehmen.

Dass die Bundesrepublik in den 1950er Jahren nicht jeden Einwohner der SED-Diktatur mit offenen Armen aufnahm, gehört heute zu den gründlich vergessenen Vorkommnissen im Migrationsrecht.

In seinem Fall ging alles gut, er wurde in den Dienst der Deutschen Bundesbahn übernommen.

15 Jahre später hatte der Bundesdisziplinarhof (BDH) über einen ganzen Strauß an Vorwürfen gegen den Eisenbahner zu richten. Etwas salopp formuliert gab er manchen seiner Kollegen und Vorgesetzen wohl das Bild eines Mannes, der in jedem Bahnhof eine Freundin hatte. Man warf ihm vor, im Packwagen Rundhölzer transportiert und auf der Höhe seines Hauses an der Strecke aus dem Zug geworfen zu haben – Material für einen Anbau. Auch dass er aus der Schlacke, die Dampflokomotiven hinterließen, noch brauchbare Kokskohlenstücke geklaubt hatte, sei pflichtwidrig gewesen.

Zu allem Überfluss stand nicht nur seine erotische Treue, sondern auch jene gegenüber der Bundesrepublik Deutschland in Frage. Unter anderem im Briefwechsel mit einem Journalisten der "Märkischen Volksstimme" hatte er sich sowohl über private als auch über politische Sachverhalte geäußert. In der SED-Zeitung waren seine Aussagen sinnentstellend im Geist der DDR-Propaganda gegen die Bundesrepublik und ihre Bahn ausgeschlachtet worden.

Gemaßregelt wurde der Bahnbeamte zwar, vor allem wegen eines beleidigenden Briefes an einen Kollegen. Insgesamt sahen die Richter jedoch viele Vorwürfe entkräftet. Dass er sich gegenüber der DDR-Zeitung, sachlich begründet, auch positiv über die Verhältnisse im Osten geäußert hatte, z.B. die niedrigeren Mieten, sei kein Treuebruch: "Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung verlangt keineswegs, Schwarz-Weiß-Malerei zu üben" (BDH, Urt. 06.05.1966, Az. II D 20/65).

Fall 7: Streik kann so viel scheußlicher sein

Schließen wir den bunten Kessel zur Eisenbahn mit einem Fall aus uralten Zeiten ab: Mit Urteil vom 4. März 1922 (Az. I 315/21) entschied das Reichsgericht über die Frage, ob die Bahn dafür aufzukommen habe, dass einer ihrer Kunden sehr gründlich bestohlen worden war.

Der Kläger hatte am 23. Juni 1919 der Eisenbahn einen Waggon mit Umzugsgut übergeben, das vom schlesischen Beuten nach Breslau befördert werden sollte. Tags darauf war er in Brockau, heute Brochów, einem Vorort der schlesischen Metropole Breslau, angekommen.

Von dort ging die Fahrt jedoch nicht mehr weiter, weil unter den Eisenbahnarbeitern ein Streik ausgebrochen war. Bis zum 29. Juni 1919 war ein beachtlicher Teil seines Umzugsguts aus dem Waggon gestohlen worden.

Die Bahn verweigerte den Schadenersatz, weil der Streik ein Akt höherer Gewalt gewesen sei. Das Reichsgericht sah sich dazu veranlasst, ausführlicher auf die besonderen handelsrechtlichen Haftungsverhältnisse im Eisenbahnbetrieb einzugehen und auch den Begriff der "höheren Gewalt" zu rekapitulieren: "Es entsteht nun die Frage, ob von diesem Standpunkt aus der Eisenbahnerausstand, der im vorliegenden Falle zur Stillegung des Eisenbahnbetriebs auf den hier in Betracht kommenden Strecken und in weiterer Folge zur Unterlassung jeder Güterbewachung auf Bahnhof Brockau geführt hat, als außerhalb des Betriebskreises der Eisenbahn liegend angesehen werden kann."

Solange ein Streik von Eisenbahnern aus Eigeninitiative entstanden war, so das Reichsgericht, sollte er dem Bahnbetrieb zugerechnet werden. Ein Fall von höherer Gewalt kam aber in Frage, wenn ein politisches Motiv vorlag. Beispielsweise wurde der Kapp-Putsch 1920 durch einen Generalstreik abgewendet und während des polnisch-sowjetischen Krieges 1919–1921 streikten deutsche Transportarbeiter in Danzig, um westliche Waffenlieferungen an Polen zu verhindern.

Zum Bahnstreik erklärte das Reichsgericht indigniert: "Die Plünderung war unter den damaligen Verhältnissen kein ungewöhnliches Ereignis, sondern ein Vorkommnis, das sehr häufig zu den schädlichen Begleiterscheinungen von Ausständen gehört."

Es war also nicht alles besser, als noch die Lokomotiven unter Dampf standen – und nicht die Lokomotivgewerkschaftsvorsitzenden samt ihrer Kontrahenten.

Zitiervorschlag

Zigaretten, Alkohol, Kaffee, Sex und Spalterflagge: Historische Nebengleise des Eisenbahnrechts . In: Legal Tribune Online, 10.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54065/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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