In 100 Jahren Rechts- und Justizgeschichte erfuhren diese zehn Personen und Ereignisse nicht viel Aufmerksamkeit. Dabei finden sich darunter die Grundlagen des Tarifvertragswesens ebenso wie das StGB der DDR und Schwarzers Sexismusklagen.
1/10: 1918 - Das Stinnes-Legien-Abkommen
Den meisten ist sie nur vage und dem Namen nach bekannt. Dabei gehört die zwölf Punkte umfassende Vereinbarung eigentlich als Fußnote in jeden guten Grundgesetzkommentar zu Artikel 9 Absatz 3.
Am 15. November 1918 wurde die "Satzung für die Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands" unterzeichnet, benannt nach den Montanindustriellen Hugo Stinnes (1870–1924) und dem Gewerkschaftsführer Carl Legien (1861–1920).
Für die Arbeiterschaft (die soziologisch noch junge Gruppe der Angestellten blieb außen vor) erkannten die führenden Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften als "berufene Vertreter" an, gemeinsam erklärte man die Beschränkung der Koalitionsfreiheit für unzulässig, vereinbarte ein Rückkehrrecht der aus dem Krieg zurückkommenden Arbeitnehmer und die Schaffung von Betriebsräten für Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten. Auf die Förderung von ihr genehmen "gelben Gewerkschaften" wollte die Kapitalseite künftig verzichten, für Tarifverträge wurden paritätische Schlichtungsausschüsse bzw. Einigungsämter verabredet.
Vom Stinnes-Legien-Abkommen versprachen sich die Arbeitgeber, eine drohende Vergesellschaftung ihrer Unternehmen abzuwenden. Die Gewerkschaften brachten – wenn auch vorläufig und auf dem Papier – ihre alte Forderung nach dem Acht-Stunden-Tag durch.
Noch vor der Machtübergabe an die NSDAP zerbrach zwar die Übereinkunft zwischen Arbeit und Kapital u.a. an der Arbeitszeitfrage. Doch als normativer Minimalkonsens bildete das Stinnes-Legien-Abkommen eine Linie, hinter die das Tarifvertragsgesetz sowie Rechtsprechung und Lehre zu Artikel 9 Abs. 3 GG nach 1949 nicht zurückfallen mochten.
2/10: 1928 - Der Schachty-Prozess
Zwischen dem 18. Mai und dem 7. Juli 1928 standen in Moskau 53 russische Ingenieure und Funktionäre sowie drei deutsche Ingenieure wegen Sabotage- und Konspirationsvorwürfen vor einem sorgfältig vorbereiteten Tribunal unter dem Vorsitz des späteren sowjetischen Generalstaatsanwalts und Außenministers Andrei Wyschinski (1883–1954).
Ein Teil der Angeklagten wiederholte vor dem Publikum von rund 1.500 Zuschauern und über 100 Journalisten sowie diplomatischen Prozessbeobachtern ihre abgepressten Geständnisse. Während die drei deutschen Angeklagten frei kamen, möglicherweise um die Kooperation zwischen dem militärisch-industriellen Komplex in Deutschland und der UdSSR nicht zu gefährden, wurden die übrigen Angeklagten fast durchgängig schuldig gesprochen, elf zum Tod verurteilt.
Wichtiger als die teils in sich schon bei technisch-wissenschaftlicher Betrachtung unschlüssigen Sabotagevorwürfe war das ritualisierte Bekenntnis der Verschwörung mit ausländischen Mächten sowie inneren Feinden des neuen starken Manns der Sowjetunion, Josef Stalin (1878–1953).
Die nach dem vermeintlichen Tatort, der Stadt Schachty im Donezk-Industriegebiet, benannte Justiz-Travestie gilt als der erste große Schauprozess im Machtbereich der kommunistischen Parteien – eine Tradition, die in der Volksrepublik China bis heute gepflegt und, in Form geheimdienstlich gesteuerter Verfahren, auch in der Russischen Föderation leider nicht unbekannt ist.
3/10: 1938 - Das Münchner Abkommen und die Wiener Schiedssprüche
Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 sollte von der Bundesrepublik Deutschland und der sozialistischen Tschechoslowakei 1973 für nichtig erklärt werden.
Die tschechische Seite sah es als einen völkerrechtswidrig von Deutschland, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich zu Lasten Dritter geschlossenen Vertrag an, der von Beginn an (ex tunc) nichtig gewesen sei. Die deutsche Seite betrachtete es als ex nunc, also erst später ungültig gewordene Auslieferung der tschechoslowakischen Republik an das Deutsche Reich.
Als Symbol für die wenig ehrenvolle westliche Appeasementpolitik gegenüber dem totalitär regierten Deutschland ist "München" bis heute eine feste Größe im politischen Sprachgebrauch.
Weitaus weniger bekannt sind die beiden sogenannten "Wiener Schiedssprüche", die zeitlich an "München" anschlossen. Mit dem "1. Wiener Schiedsspruch" vom 2. November 1938 teilte der NS-Staat seine Beute mit dem verbündeten, offiziell immer noch als Königreich firmierenden Ungarn: Dieses annektierte auf Grundlage des "Schiedsspruchs" rund 12.000 Quadratkilometer slowakischen Gebiets. Ein zweiter "Schiedsspruch" erlaubte den Ungarn weiträumige Annexionen auf Kosten Rumäniens.
Während es in den deutsch-tschechischen Beziehungen ruhig geworden ist, was "München" und die brutale Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft, spielen die "Wiener Schiedssprüche" bis heute unter der Hand eine Rolle: Von Rumänien und der Slowakei verlangt die ungarische Regierung bis heute eine Verbesserung des Minderheitenschutzes, Gedankenspiele zu Grenzkorrekturen und die Verleihung doppelter Staatsangehörigkeiten bilden unter dem Dach der Europäischen Union ein Konfliktpotenzial, das anachronistisch wirkt – gleichwohl nach der Ankündigung Österreichs, die Einbürgerung von Südtirolern betreiben zu wollen, Vorbildcharakter zu haben scheint.
4/10: 1948 - Das Attentat auf Christos Ladas
Ein Anwalt sollte seine Mandanten kennen.
Christos Ladas, geboren 1891 in Athen, war seit 1912 zur Anwaltschaft zugelassen und übernahm im August 1925 und Februar 1926 die Verteidigung von Führern der Kommunistischen Partei Griechenlands (Kommounistikó Kómma Elládas, kurz: KKE).
Er selbst engagierte sich in der liberalen Partei des Eleftherios Venizelos (1864–1936) und avancierte zum Parlamentsabgeordneten. Nach Ende der deutschen Besatzung wurde Ladas erneut ins Parlament gewählt und zum Justizminister der zweiten Nachkriegsregierung unter Ministerpräsident Themistoklis Sofoulis (1860–1949). Griechenland war zwischen März 1946 und Oktober 1949 Schauplatz eines Bürgerkrieges zwischen kommunistischen und anderen linken Kräften auf der einen, Regierungs- und rechtsgerichteten Kräften auf der anderen Seite.
Ein im Jahr 1947 erlassenes Verbot der KKE verantwortete Ladas mit. In Reaktion darauf wurde der Justizminister am 1. Mai 1948 vom kommunistischen Attentäter Efstratios Moutsoyiannis nach dem Besuch eines Karsamstag-Kirchgangs durch ein Handgranaten-Attentat ermordet.
Moutsoyiannis und acht mutmaßliche Tatgenossen wurden bereits am 21. Juni zum Tod verurteilt. Sechs von ihnen wurden, anders als der Haupttäter, vier Tage später hingerichtet.Damit nicht genug. Bereits vier Monate nach Beginn des Bürgerkrieges waren die ersten aus politischen Gründen Inhaftierten standrechtlich erschossen worden. Im Verlauf des Bürgerkriegs sollten von rund 7.000 Todesurteilen zwischen geschätzt 3.000 und 5.000 Menschen hingerichtet werden.
Allein in den zehn Tagen nach der Ermordung von Christos Ladas wurden, so der Historiker Polymeris Voglis, 109 politische Gefangene zur Vergeltung für den Tod des Justizministers hingerichtet.
5/10: 1958 - Otto von Habsburg verzichtet (noch nicht so ganz)
Mit "Gesetz vom 3. April 1919, betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen" hatte die Nationalversammlung der neuen Republik Deutschösterreich sich ins Eigentum der bisherigen Herrscherfamilie gesetzt, die herrschaftlichen Titel abgeschafft – 1920 sollten alle weiteren Adelstitel verboten werden – und Eide auf den Kaiser für unverbindlich erklärt.
Zudem bediente sich die junge Republik eines Instruments, das ein wenig paradox wirkt: Man verwies den ehemaligen "Träger der Krone" und die Mitglieder des "Hauses Habsburg-Lothringen" des Landes, soweit sie nicht auf ihre Herrschaftsansprüche ausdrücklich verzichteten und sich zur Republik bekannten.
Ein bisschen paradox ist dies insoweit, als eine Landesverweisung eher zum Recht eines vormodernen Staates passt. Indem von den Fürstenkindern ein Bekenntnis zur Republik abverlangt wurde, versah der neue Staat zudem die alten Vorstellungen von Geblütsheil und Gottgnadentum nur mit einem Minuszeichen, statt ihnen das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit als selbstverständlich vorauszusetzen.
Im Februar 1958 erklärte Otto von Habsburg (1912–2011), Sohn des letzten Kaisers:
"Um in meine Heimat zurückkehren zu können, erkläre ich im eigenen Namen und im Namen meiner Gemahlin und meiner minderjährigen Kinder als österreichischer Staatsbürger, die derzeit in Österreich geltenden Gesetze anzuerkennen und mich als getreuer Bürger der Republik zu bekennen."
Mit dieser Erklärung gab sich die österreichische Regierung aber nicht zufrieden. Insbesondere fehlte ihr der Verzicht auf staatsrechtliche bzw. vermögenswerte Ansprüche des inzwischen als CSU-Europapolitiker reüssierten Prinzen.
Erst 1961 ließ sich der Fürstensohn zu einer solch hinreichenden Erklärung herab. Bestattet wurde er, mit deutschösterreichischem Aufwand, 2011 in der Wiener Kapuzinergruft.
6/10: 1968 - Die DDR bekommt ein StGB
Zumeist wird das Jahr 1968 mit dem Protest gegen die Notstandsgesetze im freien Teil Deutschlands in Verbindung gebracht.
Mit der Studentenbewegung verknüpft sind seither im 10-Jahres-Rhythmus nostalgische wie negative Einschätzungen, die ihrer historischen Bedeutung kaum gerecht werden, standen die Zeichen der Zeit doch auch ohne "Mao-Bibel" schwingende oder mit dem RAF-Terror sympathisierende Akademiker auf Liberalisierung und Sozialtechnologisierung – Unzucht und Teletex bei der Bundespost, wenn man so will.
Während sich Liberalisierung im Westen Deutschlands auch im Strafrecht abzeichnete, in der Abschaffung des Zuchthauses und der sozialpychiatrischen Bewegung, setzte sich auch die DDR ein neues Strafgesetzbuch. Wo im Westen der Nulla-poena-Satz bekräftigt wird, erklärte der DDR-Normsetzer:
"Artikel 1. Schutz und Sicherung der sozialistischen Staatsordnung und der sozialistischen Gesellschaft. Gemeinsames Interesse der sozialistischen Gesellschaft, ihres Staates und aller Bürger ist es, den zuverlässigen Schutz der Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik und der sozialistischen Errungenschaften, des friedlichen Lebens und der schöpferischen Arbeit der Menschen, der freien Entwicklung und der Rechte jedes Bürgers zu gewährleisten. […]"
Anders als dieser pathetische Schmalz oder die Biografien der DDR-Spitzenfunktionäre erwarten ließen, neigte man nicht dazu, alte sozialistische Reformbemühungen aus der Weimarer Zeit aufzugreifen. Bevor 1972 die alte Idee einer Fristenlösung ins Gesetz kam, blieb z.B. die sogenannte "Unterbrechung" der Schwangerschaft grundsätzlich pönalisiert.
Die Gleichstellung von Mann und Frau beförderte Artikel 151 DDR-StGB, indem auch homosexuelle Handlungen von Frauen unter Strafe gestellt wurden. Dies entsprach nicht der alten linken Forderung nach Abschaffung des § 175 Reichsstrafgesetzbuch.
Mit sogenanntem Rowdytum (Artikel 215) stellte die DDR typischerweise abweichendes Verhalten Jugendlicher unter Strafe – einer der wenigen originär stalinistischen Beiträge zur Strafrechtsgeschichte.
Die Stasi verletzte ungestraft und systematisch das Briefgeheimnis, Fluchthilfe wurde als Menschenhandel pönalisiert, die politische Strafjustiz konnte mit unscharfen Begriffen scharf operieren: DDR-Nostalgikern zur Lektüre empfohlen.
7/10: 1978 – Schwarzers Sexismus-Klage
Eine Mischung aus Politikberichterstattung und Pornografie kam in den 1970-er Jahren gut an. Namentlich die St. Pauli-Nachrichten des späteren "Spiegel"-Chefredakteurs Stefan Aust und des mit einer Justizaffäre in Köln bekannt gewordenen Henryk M. Broder gaben ein prominentes Beispiel. Unter den bundesweit greifbaren Titeln perfektionierte Henri Nannens "Der Stern" den Satz, wonach semipornografisch aufbereitete Themen und Titelbilder dem Absatz helfen.
Nach einer Serie entsprechender "Stern"-Titel, darunter die vom Fotografen Helmut Newton (1920–2004) mit eher dezenten Bondage-Symbolen drapierte Sängerin Grace Jones, klagten Alice Schwarzer und ein von ihr organisierter Kreis engagierter Frauen vor dem Landgericht Hamburg auf Unterlassung.
Dem "Stern" solle, gestützt auf §§ 823 Abs 1, 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), 185 StGB, aufgegeben werden, es zu unterlassen, auf seinen Titelseiten Frauen als bloßes Sexualobjekt darzustellen und damit bei männlichen Betrachtern den Eindruck zu erwecken, "der Mann könne über die Frau beliebig verfügen und sie beherrschen".
Das Landgericht Hamburg wies die Klage ab (Urt. v. 26.7.1978, Az. 74 O 235/78). Unter anderem verfing die von den Klägerinnen angesonnene Gleichstellung von Frauen als kollektiv beleidigungsfähiger Gruppe mit den überlebenden Holocaust-Opfern in Deutschland nicht. Zugespitzt gesagt: Das #metoo des Jahres 1978 lief auf die Idee hinaus, die Gesamtheit aller Frauen in Deutschland dürfe sich durch Presse-Sexismen so herabgewürdigt sehen wie jüdische Deutsche von Holocaust-Leugnern.
Weitere Anläufe, ein Kollektiv-Klagerecht gegen pornografische Darstellungen zu etablieren, startete Schwarzer 1987 mit der "PorNO"-Kampagne und 1998 mit einer Initiative von Bundestagsabgeordneten, jeweils im legislativen Bereich.
8/10: 1988 - Massenhinrichtungen im Iran
Namentlich linksgerichtete politische Häftlinge im berüchtigten Evin- sowie im Gohar-Dascht-Gefängnis wurden systematisch durch Angehörige eines Sondergerichts darauf befragt, ob sie zum Verrat an ihren Mitverschwörern bereit seien.
Eine Befragung zu Anzeichen eines Glaubensabfalls kam ebenfalls in Betracht. Kraft Zugehörigkeit etwa zu den linksradikalen Volksmodschahedin stand dieser todeswürdige Vorwurf der Apostasie bereits im Raum, weiter eruiert wurde er beispielsweise über Fragen zum Glauben an Himmel und Hölle, die Heiligkeit des Korans oder das Fasten während des Ramadans.
Eine Strafverteidigung war nicht vorgesehen, manche der Angeklagten sollen die Befragung als Vorbereitung ihrer Haftentlassung angesehen haben. Anlass zu solchen Hoffnungen mochte das nahende Ende des sogenannten Ersten Golfkriegs (1980–1988) gegeben haben.
Konservative Schätzungen gehen von rund 1.400 Hinrichtungen in einem Zeitraum von fünf Monaten aus, Amnesty International nennt im Bericht von 1990 rund 2.000 Hinrichtungsopfer.
Den seriellen Exekutionen am Galgen ging eine Isolation von den eigentlich zuständigen Gerichten sowie von Verwandten aus. Eine Freigabe der Leiche bzw. Nennung der Begräbnisstätte erfolgte allenfalls in erheblichem zeitlichen Abstand.
Einer der mutmaßlichen Verantwortlichen für diesen, von der iranischen Regierung bis heute dementierten Serienmord war der zum Tatzeitpunkt stellvertretende Geheimdienstminister Mostafa Pour-Mohammadi (1959–), der zwischen dem 15. August 2013 und dem 20. August 2017 als Justizminister der Islamischen Republik Iran amtierte.
9/10: 1998: Bürgermeister von Beijing wegen Korruption verurteilt
Inspiriert von den Reformbestrebungen in der Sowjetunion und den Bürgerbewegungen in Polen oder in Ungarn breitete sich 1989 in der Volksrepublik China eine ursprünglich studentische Demokratiebewegung aus.
Am 3. und 4. Juni 1989 wurden Proteste im Zentrum von Beijing durch das Militär niedergeschlagen. Dem Tian’anmen-Massaker seitens der sogenannten Sicherheitskräfte fielen nach Schätzungen von Amnesty International mehrere hundert, möglicherweise mehrere tausend Menschen zum Opfer.
Die politische Justiz der Volksrepublik China erhält seither auch im westlichen Ausland erstaunlich wenig Aufmerksamkeit seitens der für kritische Positionen üblichen Verdächtigen. 2017 dürfte in der Summe selbst über die Zahnprothetik des US-Präsidenten mehr berichtet worden sein als über das neue chinesische Modell der totalen Verhaltenskontrolle.
Im Fall von Chen Xitong (1930–2013), der zwischen 1983 und 1995 als Bürgermeister von Beijing amtierte, kreuzen sich die Linien der jüngeren chinesischen (Rechts-) Geschichte auf eigentümliche Weise.
Im Jahr 1989 hatte sich Chen für die gewaltsame Unterdrückung der Proteste ausgesprochen. Einerseits war dies für einen kommunistischen Funktionär des Jahrgangs 1930 nachvollziehbar, hatte er doch die von Mao Zedong 1966 ausgerufene sogenannte Kulturrevolution miterlebt – den vor allem von jungen Menschen veranstalteten Aufruhr, der mit ungeheurer Brutalität und der Verletzung zivilisatorischer Mindeststandards einherging.
Andererseits garantiert die chinesische Verfassung von 1982 die Redefreiheit, kommunistische Partei und Militär handelten mithin 1989 mutmaßlich, so viel Formalismus muss sein, verfassungswidrig.
Sein Amt verlor Chen 1995, als er unter Korruptionsanklage gestellt und zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde. Ihm wurde zum Verhängnis, dass das chinesische Modell die westliche Demokratie ablehnt – denn Parlamentarismus dient bekanntlich, was in Zeiten hoch idealistischer Demokratietheorien gerne vergessen wird, auch einer zivilen "Peer Review" gesellschaftlicher Eliten und dem Schutz ihrer persönlichen Freiheiten.
Nach elfjähriger Haft aus Gesundheitsgründen in Freiheit gekommen, machte Chen noch einmal von sich Reden, als er das Massaker von 1989 bedauerte. Man mag das ironisch nennen.
10/10: 2008 - Palästina auf dem Weg in den Rechtsstaat
Jedes Jahr um die Weihnachtszeit fällt das besondere Interesse deutscher Medien für einen Staat am östlichen Mittelmeergestade auf. Trotz der lächerlichen Größe dieses Staats (mit dem Bundesland Hessen vergleichbar) werden dort angetroffene Rechtsverstöße mit einigem Eifer gemeldet. In der Saison 2017 berichtete der Deutschlandfunk zum Beispiel über eine Kompostierungsanlage in den israelisch besetzten Gebieten, die möglicherweise (!) emissionsrechtlich bedenklich sein könnte.
Es wirkt, als sei die israelische Besatzung das einzige Problem des palästinensischen Volkes, sogar in den nicht besetzten Gebietsteilen des Westjordanlands sowie im Gaza-Streifen.
Im Jahr 2008 fand eine "Berliner Konferenz zur Unterstützung der palästinensischen zivilen Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit" statt, aus deren Anlass der damalige Bundesaußenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier u.a. erklären ließ – mit bemerkenswerter Reihenfolge:
"Ein Staat braucht nicht nur ein Staatsgebiet – er braucht insbesondere funktionierende Institutionen. Zu diesen gehören neben einem Parlament und einer Regierung auch gut ausgestattete Sicherheitsbehörden sowie eine unabhängige Justiz. Mit diesen Institutionen kann ein Staat Sicherheit und Ordnung durchsetzen – Grundvoraussetzungen für weitere Entwicklungen, sowohl politisch, aber auch wirtschaftlich."
Es fällt schwer, die Fortschritte dieses edlen Anliegens zu rekonstruieren. Im Vergleich wirken die Sendezeitverteilung für jüdische Komposthaufen (siehe oben) und die Entwicklung der palästinensischen Justiz jedenfalls eigenartig.
Die hier verborgene Ignoranz lässt sich auch kaum noch mit einem sarkastischen Schulterzucken abtun: Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit förderte beispielsweise die Europäische Union bereits vor dem sogenannten "Arabischen Frühling" einen Rechtsstaatsdiskurs mit den Maghrebstaaten.
Von europäischen Berufsträgern ernstgenommen, um berufsständische Ausbildungs- und Reisekontakte und steuerfinanzierten Austausch mit Richtern und (Kommunal-) Verwaltungsbeamten ergänzt, könnten und sollten die Mittelmeer-Anrainer eigentlich längst eine Spielwiese auch deutscher Juristen sein. Die Welt ist doch zu wichtig, um sie Schleppern und Internet-Trollen zu überlassen.
Martin Rath, 100 Jahre Rechts- und Justizgeschichte: Vergessene Stationen . In: Legal Tribune Online, 01.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26235/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag