Drei-Prozent-Hürde bei den Europawahlen: Parlamentarische Rechenspiele

von Dr. Enrico Peuker

06.06.2013

Der Bundestag berät am Donnerstag darüber, mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP und den Grünen eine Drei-Prozent-Hürde für die Wahlen zum Europäischen Parlament einzuführen. Dabei hatte das BVerfG solche Sperrklauseln vor gut anderthalb Jahren noch für verfassungswidrig erklärt. Die parlamentarische Machtprobe dürfte kein glückliches Ende finden, meint Enrico Peuker.

Man könnte annehmen, beim Umgang mit Milliardenbeträgen in der Euro-Krise sei dem Bundestag das Gespür für die kleinen Zahlen abhandengekommen. Und doch stimmt die Rechnung, die er mit Blick auf die Sperrklauseln bei Europawahlen aufmacht: Drei Prozent sind entschieden weniger als fünf Prozent. Der Schluss, den das Parlament aus dieser einfachen Ungleichung zieht, greift aber zu kurz: Auch eine Drei-Prozent-Hürde ist verfassungswidrig.

Zwar ist das Wahlrecht stets Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen, schließlich geht es hier um politische Machtfragen. Der parlamentarische Vorstoß verdient aber deswegen besondere Aufmerksamkeit, weil er bewusst gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen zielt und kleinere, nicht im Bundestag vertretene Parteien von einem Einzug in das Europäische Parlament abhält. Die Bundestagsfraktionen entscheiden hier also in eigener Sache. Auf diesen sensiblen Punkt hatte das BVerfG bereits in seiner Entscheidung zur Fünf-Prozent-Hürde im November 2011 hingewiesen und deswegen eine strikte verfassungsrechtliche Kontrolle vorgenommen.

Sperrklauselsperre für Europawahlen

In der Entscheidung leitete das BVerfG eine Sperrklauselsperre für die Europawahlen aus dem Grundgesetz ab: Die in der Verfassung verankerte Wahlrechtsgleichheit verlange, dass jeder Stimme der gleiche Zähl- und Erfolgswert zukomme. Die ebenfalls geschützte Chancengleichheit der Parteien verpflichte den Gesetzgeber, den Parteien grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze einzuräumen.

Sperrklauseln durchbrechen diese Gleichheitsgrundsätze, da sie die Wählerstimmen für Parteien unterhalb der jeweiligen Prozenthürde entwerten und kleineren Parteien den Einzug in das Parlament verwehren. Für eine solche Ungleichbehandlung fordert das Gericht sachlich legitimierte und zwingende Gründe, die nach einem strengen Maßstab und anhand der politischen Wirklichkeit zu beurteilen seien. Sperrklauseln sind demnach kein Selbstzweck. Sie sind nur dann zu rechtfertigen, wenn ohne sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch den Einzug von Splitterparteien beeinträchtigt wird.

Eine solche Beeinträchtigung des Europäischen Parlaments durch den Wegfall der deutschen Sperrklausel vermochte das BVerfG aber nicht zu erkennen. Zwar wären dann 169 statt 162 Parteien in Straßburg vertreten. Eine Funktionsbeeinträchtigung sei jedoch unwahrscheinlich angesichts der erheblichen Integrationskraft der europäischen Fraktionen und der stabilen Mehrheitsverhältnisse durch die Zusammenarbeit der beiden größten Fraktionen. Zudem wähle das Europäische Parlament – anders als deutsche Parlamente – keine Regierung und müsse keine gleichbleibenden Mehrheiten gegen die Opposition zum Zwecke der Gesetzgebung organisieren.

Geänderte Verhältnisse?

Tritt nun also eine große Koalition der Verfassungsbrecher zum offenen Schlagabtausch mit dem BVerfG an? Nicht zwingend. Zwar spricht nach dem Gerichtsurteil vieles dafür. Die Karlsruher Entscheidung selbst zeigt aber einen möglichen Ausweg: Der politische Wirklichkeitsbezug des Wahlrechts verpflichtet den Gesetzgeber nämlich, die wahlrechtlichen Bestimmungen fortwährend zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, soweit sich deren tatsächliche oder rechtliche Grundlagen und damit die verfassungsrechtliche Rechtfertigung geändert haben.

Die Sperrklauselsperre ist also nicht in Stein gemeißelt. Der Gesetzgeber müsste darlegen, dass sich die Funktionen des Europäischen Parlaments seit November 2011 derart geändert haben, dass sie eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung der Sperrklausel – nun in Form einer Drei-Prozent-Hürde – stützen.

Der vorliegende Gesetzesentwurf wird dieser Begründungslast aber nicht gerecht. Er stellt im Wesentlichen auf eine vom Europäischen Parlament nach der Karlsruher Entscheidung verabschiedete Entschließung ab. Darin fordert das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, in ihrem Europawahlrecht geeignete und angemessene Sperrklauseln festzulegen, um einerseits dem Wählerwillen Rechnung zu tragen und andererseits die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu gewährleisten.

Ein Wunsch ersetzt keine Begründung

Die "Aufforderung" durch das Parlament ist zunächst nur ein politischer Wunsch, keine rechtliche Pflicht. Sie entlässt den nationalen Wahlgesetzgeber vor allem nicht aus seinen verfassungsrechtlichen Bindungen.

Die Gesetzesbegründung geht weiter davon aus, dass das Europäische Parlament künftig stärker politisiert wird und einen Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition entwickelt. Dies zeichne sich insbesondere bei der Wahl des Kommissionspräsidenten ab. Die hierfür erforderliche parlamentarische Mehrheitsbildung sei gefährdet, wenn die beiden großen Fraktionen eigene Kandidaten für die Wahl des Präsidenten aufstellen und sodann Mehrheiten unter den übrigen Splitterparteien organisieren müssten.

Das überzeugt schon deswegen nicht, weil in der Entschließung des Europäischen Parlaments alle europäischen Parteien aufgefordert werden, eigene Kandidaten zu benennen. Pluralisierte Prozesse der Mehrheitsbeschaffung werden also ohnehin vorausgesetzt. Die Vermutungen hinsichtlich einer stärkeren Politisierung können zudem nicht auf eine neue Rechtslage zurückgeführt werden: die einschlägigen Regelungen im Vertrag von Lissabon waren bereits Grundlage der Karlsruher Entscheidung im November 2011 und sind seitdem gleich geblieben. Ohnehin erscheint fraglich, ob künftige, vermutete Entwicklungen die aktuelle Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel beeinflussen können.

Die Gesetzesbegründung verweist schließlich auf eine deutsche Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments und zitiert hierfür erneut das BVerfG-Urteil. Es wirkt aber nicht gerade redlich, wenn die Gesetzesbegründung verschweigt, dass es sich hierbei um eine im Sondervotum geäußerte Rechtsansicht handelt, die im Senat – mit guten Gründen – eben nicht mehrheitsfähig war.

Mehr Demokratie durch weniger Parteien?

Selbst wenn die Prognosen der Gesetzesbegründung eintreffen sollten, blieben demokratietheoretische Zweifel. Eine Stärkung des Europäischen Parlaments mit dem Ziel einer besseren demokratischen Legitimation der EU erhöht die Bedeutung der Europawahl. Damit nimmt aber auch die Sensibilität gegenüber Durchbrechungen der Wahlrechtsgleichheit zu. So bleibt weiterhin begründungsbedürftig, wie ein Mehr an Demokratie durch ein Weniger an Parteien erreicht werden soll. Denn was für die einen eine unerwünschte Zersplitterung darstellt, kann für die anderen eine erwünschte Pluralisierung der Meinungsvielfalt sein.

Ein Blick auf die nackten Zahlen verrät zudem die absehbare Wirkungslosigkeit einer deutschen Sperrklausel. 169 statt 162 Parteien wären ohne diese Hürde im Europäischen Parlament. Diese zu vernachlässigende Differenz offenbart die Eigenart des Europäischen Parlaments: Zwar haben sich in der europäischen Parteienlandschaft mittlerweile stabile Großfamilien etabliert, deren Bedeutung in Europa und Einfluss auch auf die nationale Ebene zunimmt. Sie sind jedoch immer noch als Dachverbände organisiert und hängen sowohl finanziell als auch personell in hohem Maße vom Input der nationalen Parteien ab. Demgegenüber haben sich die Fraktionen im Europäischen Parlament weitgehend institutionell verselbständigt. Sie arbeiten nicht im Bann einer Parteiführung, sondern bilden das eigentliche Kraftzentrum parlamentarischer Politik. Diese Tatsache vermag die Gesetzesbegründung nicht substanziell zu entkräften.

Da eine neue verfassungsrechtliche Beurteilung von Sperrklauseln nicht angezeigt ist, bleibt der Gesetzgeber an das verfassungsgerichtliche Urteil gebunden. Sollte er das Europawahlgesetz dennoch durch die Einführung einer neuen Sperrklausel ändern, hätte ein Verfahren zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung derselben gute Erfolgsaussichten. Zudem würde ein solch mehr oder minder offener Bruch mit dem BVerfG ein bemerkenswertes (Un)verständnis des Prinzips der Organtreue zwischen Bundestag und BVerfG offenbaren. Es deutet jedenfalls vieles darauf hin, dass sich der Wahlgesetzgeber mit seiner Drei-Prozent-Hürde verrechnet hat.

Der Autor Dr. Enrico Peuker ist Akademischer Rat a. Z. und Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht sowie Jean Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integration an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Zitiervorschlag

Enrico Peuker, Drei-Prozent-Hürde bei den Europawahlen: Parlamentarische Rechenspiele . In: Legal Tribune Online, 06.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8864/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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