BSG-Präsident Schlegel ist ein Jahr im Amt: "Staub­tro­ckene Ent­schei­dungen, die viele Men­schen betreffen"

von Annelie Kaufmann

02.10.2017

2/2 "Viele Solo-Selbstständige haben keine ausreichende Altersvorsorge"

LTO: Auf viel Kritik stießen die Grundsatzentscheidungen des 4. und 14. Senats, wonach EU-Bürger aus anderen Mitgliedstaaten zwar keine Grundsicherung bekommen, aber einen Anspruch auf Sozialhilfe haben können. Dem Bundessozialgerichtwurde vorgeworfen, es habe eigenmächtig neue Ansprüche geschaffen. Die Große Koalition hat deshalb Ende 2016 ein Gesetz verabschiedet, das EU-Ausländer, die in Deutschland Arbeit suchen, in den ersten fünf Jahren weitgehend von Sozialleistungen ausschließt. Schafft das ausreichend Klarheit?

Schlegel: Damit hat der Gesetzgeber entschieden, dass auch Leistungen der Sozialhilfe grundsätzlich ausgeschlossen sind. Zugleich sind bestimmte Leistungen ausdrücklich vorgesehen – etwa ein Überbrückungsgeld für vier Wochen und ein Darlehen, um die Rückreise in das Heimatland zu ermöglichen. Die Frage ist jetzt: Reichen diese Leistungen aus, um das Existenzminimum zu sichern? Bisher haben die Sozialgerichte meines Wissens noch keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass das nicht der Fall wäre und es gab noch keine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht. Es bleibt abzuwarten, wie die zuständigen Senate des Bundessozialgerichts entscheiden werden, wenn diese Frage bei ihnen ankommt.

LTO: Welche sozialrechtlichen Themen müsste denn die nächste Koalition unbedingt angehen?

Schlegel: Was meines Erachtens dringend geregelt werden muss, ist die Versicherung von Solo-Selbstständigen. Es gibt immer mehr Berufsgruppen, die nicht der Versicherungspflicht unterfallen, weil sie selbständig tätig sind – das betrifft den gewerblichen, aber auch den sozialen Bereich. So stellen zum Beispiel Kommunen Familienhelfer als freie Mitarbeiter an. Wir können dann zwar im Einzelfall feststellen, ob jemand tatsächlich selbstständig arbeitet oder ob es eigentlich um eine abhängige Beschäftigung geht. Wenn es keine abhängige Beschäftigung ist, gibt es in der Regel keine Versicherungspflicht, aber die Betroffenen sorgen angesichts ihrer geringen Gewinne aus der selbständigen Tätigkeit oft nicht für eine ausreichende Altersvorsorge. Ich bin auch zuversichtlich, dass es dazu eine Regelung geben wird, denn bis auf die AfD haben alle Parteien das Thema aufgegriffen und dazu Vorschläge gemacht.

"Schriftsätze auf eine bestimmte Zeichenzahl begrenzen"

LTO: Spätestens 2022 muss der elektronische Rechtsverkehr an den Gerichten eingerichtet sein. Wie weit ist das Bundessozialgericht auf dem Weg dorthin?

Schlegel: Wir werden im Frühjahr 2019 mit den Vorarbeiten für die elektronische Akte beginnen. In den Ländern laufen schon verschiedene Pilotprojekte zu den jeweiligen Software-Produkten. Wir müssen nun sehen, für welches Produkt wir uns beim Bundessozialgericht entscheiden und wie wir das ohne Medienbrüche mit den Gerichten in den Ländern und mit der Verwaltung zusammenführen.
Da kommen aber nicht nur technische Fragen auf uns zu. Die Arbeit an den Texten verändert sich insgesamt. Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass schon jetzt viele Schriftsätze immer länger werden, weil die entsprechenden Textbausteine schnell am Computer verfügbar sind. Deshalb wäre ich dafür, mit Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs zugleich den Umfang von Schriftsätzen auf eine bestimmte Zeichenzahl zu begrenzen.

LTO: Mit einer gesetzlichen Regelung?

Schlegel: Ja, man könnte zum Beispiel für Nichtzulassungsbeschwerden eine bestimmte Zeichenzahl vorsehen, die nicht überschritten werden darf. Wer meint, er könne damit sein Anliegen nicht ausreichend darlegen, könnte einen Antrag auf Erweiterung des Zeichenumfangs stellen. Beim Europäischen Gerichtshof gibt es bereits entsprechende Empfehlungen für Schriftsätze in Vorabentscheidungsersuchen. Ich glaube, das würde die Qualität der Schriftsätze in vielen Fällen verbessern - das gilt übrigens auch für Urteile. Was man nicht auf zehn Seiten erklären kann, kann man meistens auch auf dreißig Seiten nicht besser ausführen.

"Kollegen, die in Kassel leben, haben Vorteile"

LTO: Über Karlsruhe heißt es oft, die Distanz zu Berlin sei für die dortigen Gerichte ein Vorteil. Zugleich versteht man sich dort als Rechtsstandort – aktuell wird etwa über ein "Forum Recht" diskutiert, das den Bürgern den Rechtsstaat näherbringen soll. Wie prägt der Standort Kassel das Bundessozialgericht? Denkt man bei "Kassel" an die documenta - und an das Bundessozialgericht?

Schlegel: Kassel liegt mitten in Deutschland, ist von Karlsruhe und Berlin gleich weit entfernt und sehr gut erreichbar. Kassel weiß, was es am Bundessozialgericht hat und schon mein Vorgänger hat das Gericht für die Bürger Kassels geöffnet, etwa mit Veranstaltungen und Konzerten. Kassel ist eine durchaus attraktive Stadt. Es gibt Kollegen, die nach Ihrer Ernennung zum Bundesrichter hier ihren Lebensmittelpunkt nehmen. An einem Kollegialgericht ist es zudem wichtig, dass sich die Kollegen ohne Zeitdruckaustauschen können, ohne gleich auf die Uhr zu gucken, weil man zum Zug muss. Hier haben diejenigen, die Kassel zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben, sicherlich Vorteile.

LTO: Und wo ist ihr Lebensmittelpunkt?

Schlegel: Ich lebe in Kassel, auf der Schwäbischen Alb und in Berlin.

Dr. Rainer Schlegel ist seit dem 1. Oktober 2016 Präsident des Bundessozialgerichts. Seit 1997 ist er dort Bundesrichter, 2010 wechselte er ins Bundesministerium für Arbeit und Soziales und war dort Leiter der Abteilung "Arbeitsrecht und Arbeitsschutz". 2014 kehrte er zurück nach Kassel und übernahm das Amt des Vizepräsidenten am Bundessozialgericht. Daneben ist er Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 

Zitiervorschlag

Annelie Kaufmann, BSG-Präsident Schlegel ist ein Jahr im Amt: "Staubtrockene Entscheidungen, die viele Menschen betreffen" . In: Legal Tribune Online, 02.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24797/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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