Nachhaltigkeit als neue Staatszielbestimmung: Über die Amts­pe­riode hinaus – in der Herr­schaft auf Zeit?

von Julia Koa

04.07.2016

2/2: Schwan: Staatsziel gegen die Kurzatmigkeit der Politik

Papier betonte jedoch, dass – anders als bei anderen denkbaren Staatszielen wie denen der Kultur- oder Sportförderung – wegen der Offenheit des Nachhaltigkeitsbegriffs nicht zu erwarten sei, dass das Verfassungsgericht fortan dem Gestaltungspielraum des jeweiligen Gesetzgebers geringere Bedeutung zumessen werde.

Prof. Dr. Gesine Schwan, die ebenfalls als Expertin zur Anhörung geladen war und die Perspektive der Politikwissenschaften vertrat, versteht das mögliche neue Staatsziel der Nachhaltigkeit als Chance, der "Kurzatmigkeit" mancher politischen Entscheidung entgegenzuwirken. Sie mutmaßte, dass beispielsweise einige Entscheidungen in der Europapolitik oder der Flüchtlingspolitik anders ausgefallen wären, wenn sie einer Prüfung auf ihre Nachhaltigkeit hätten standhalten müssen.

Joachim Wieland lieferte auch gleich einen konkreten Formulierungsvorschlag für eine Ergänzung der Verfassung. Man könnte etwa als Art. 20b einen zusätzlichen Satz in das Grundgesetz aufnehmen: "Der Staat beachtet bei seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit." Den Gesetzgeber treffe dann die Pflicht, so Wieland, bei seiner Arbeit zu erwägen, ob der jeweilige Rechtsakt Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit Rechnung getragen habe. Auch die Exekutive wäre dann verpflichtet, bei Ermessensentscheidungen Nachhaltigkeitserwägungen anzustellen.

"Verfassungsvorschriften sollen kurz und dunkel sein"

Vor allem bei den Abgeordneten der Unionsfraktion herrscht allerdings Skepsis, ob der Nachhaltigkeitsbegriff hinreichend bestimmt ist, um eine der Leitlinien staatlichen Handelns zu werden. So gab Matern von Marschall (CDU) zu bedenken, es könnte eine Klageflut drohen, da der Nachhaltigkeitsbegriff sowohl in der Bevölkerung als auch unter den Volksvertretern sehr unterschiedlich verstanden werde.

Dem hielt Wieland entgegen, dass es Verfassungsnormen geradezu immanent sei, keine konkreten Handlungsvorgaben und Lösungsvorschläge zu enthalten:  "Verfassungsvorschriften sollen kurz und dunkel sein, davon leben wir Verfassungsrechtler schließlich", fügte er augenzwinkernd hinzu. Es könne zwar unterschiedliche Auffassungen darüber geben, welche konkreten Maßnahmen nachhaltig seinen – jedenfalls sicher feststellen könne man aber, wenn ein bestimmtes staatliches Handeln offensichtlich nicht nachhaltig sei.

Den erhofften Segen der Verfassungsrechtler und der Politikwissenschaftlerin Schwan brachte die Anhörung also für die Initiative des Nachhaltigkeitsbeirats. Ob und vor allem wann die politische Umsetzung beginnt, ist dennoch offen. Carsten Träger, Obmann der SPD-Fraktion im Beirat, glaubt nicht daran, dass es noch in dieser Legislaturperiode zu einer entsprechenden Grundgesetzänderung kommt: "Zwar sind sich grundsätzlich alle einig, dass das Nachhaltigkeitsprinzip politisch und rechtlich gestärkt werden sollte. Aber gegen die Aufnahme ins Grundgesetz sträuben sich einige noch."

Die Angst vor einer Klageflut als Folge der Einführung des Nachhaltigkeitsprinzips teilt Träger nicht. Es sei schließlich vollkommen normal, dass gesetzgeberische Entscheidungen im Hinblick auf ihre Verfassungskonformität hinterfragt und angefochten würden: "Die verfassungsgerichtliche Kontrolle unserer Entscheidungen gehört zum Alltag parlamentarischer Arbeit und ist nichts, wovor wir zurückschrecken sollten."

Die Autorin Julia Koa arbeitet derzeit als geprüfte Rechtskandidatin bei den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestags.

Zitiervorschlag

Julia Koa, Nachhaltigkeit als neue Staatszielbestimmung: Über die Amtsperiode hinaus – in der Herrschaft auf Zeit? . In: Legal Tribune Online, 04.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19880/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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