Merkwürdige Verfassungsinterpretation: US-Juristen gut deitsch in den Wahnsinn treiben

von Martin Rath

28.09.2014

2/2: Deutsch als halbe Amtssprache: Pennsylvanien

Für die Gründungszeit der Vereinigten Staaten wird bis heute gelegentlich die Legende kolportiert, dass Deutsch als zweite Amtssprache in Erwägung gezogen worden sei, eine entsprechende Gesetzesvorlage allein am Votum eines ausgerechnet deutschstämmigen Abgeordneten scheiterte. Tatsächlich lag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der deutsche Bevölkerungsanteil in Pennsylvania zeitweise bei rund einem Drittel, das "Pennsylvanisch-Deitsch" lässt sich noch heute lernen. Das Gerücht zur Amtssprache ist aber unhistorisch: Auf den Gedanken, eine offizielle Sprache festlegen zu sollen, kommen US-Bundesstaaten erst neuerdings – in ihren Gründerzeiten bediente man sich schlicht der englischen Sprache und warb um potenzielle Wähler ebenso pragmatisch in ihren Muttersprachen.

Über die zukünftigen Gesetzgebungsbefugnisse des US-Kongresses wurden damit die stimmberechtigten Männer Pennsylvaniens 1787 am Beispiel der "Commerce Clause" wie folgt unterrichtet: "Die Handelschaft mit auswärtigen Nationen, und unter den verschiedenen Staaten und mit den Indianer Stämmen einzurichten…", liege in der Kompetenz der Union. Die Niederländer im Staat New York erfuhren von dieser Kompetenzkompetenz: "Om de koopmanschap te reguleeren…". Das deutsche Wort "Handelschaft" lässt nun eine möglicherweise engere, das Wort "einrichten" eine weitere Auslegung zu als das englische "regulate". Die niederländische "koopmanschap" ist womöglich weniger weit als der "Commerce" – Untiefen der Verfassungswortlautinterpretation tun sich hier auf.

Um ein weiteres geldwertes Beispiel zu geben: Die Kompetenzzuordnung für das Patent- und Urheberrecht heißt im englischen Wortlaut: "To promote the Progress of Science and useful Arts by securing for limited times…", woraus im Deutsch von 1787 wurde: "Die Aufnahme der Wissenschaften und nützlichen Künste dadurch zu befördern, daß er [der Kongress] denen Autoren und Erfindern das auschliessende Recht zu ihern respectiven Schriften und Entdeckungen für eine gewisse Zeit versichert…". In den Distinktionen, die zwischen englischem Wortlaut und Übersetzung zu finden sind, können gravierende verfassungsrechtliche Grundentscheidungen verborgen liegen: Darf der US-Kongress beispielsweise Schutzrechte, die einmal eingeführt wurden, nachträglich verlängern? Gibt es einen Unterschied zwischen "limited times" und "für eine gewisse Zeit"? Und erfasst überhaupt "promote the Progress of Science" Schutzrechte für lächerliche "neue" Mobiltelefone?

Frühe Übersetzungen als jedenfalls amüsanter Kommentar

Mulligan, Douma, Lind und Quinn sind der Ansicht, dass die frühen Übersetzungen des US-Verfassungstexts eine nützliche Quelle zur Interpretation sein können. Man darf sich schon mit leicht sarkastischem Lächeln das Haareraufen beim Abgleich der normativen Leitbilder vorstellen: 1787 existierten beispielsweise in Deutschland diverse freie Reichsstädte, die über eigene Münzrechte, Stadtmauern, über Militär und – hier wird es interessant – über eigene Bürgerrechte verfügten.

Die deutsche Übersetzung, die den Bürgern Pennsylvaniens half, ihre Meinung zur jungen US-Verfassung zu klären, lautete für den US-Präsidenten: "Niemand ausser ein geborner Bürger, oder der zu der Zeit da diese Verfassung angenommen wird, ein Bürger der Vereinigten Statten ist, soll zu dem Amte eines Präsidenten wahlfähig seyn…".

Man darf es sich jedenfalls als amüsante Übung vorstellen, wollten US-Verfassungsrechtler sich nunmehr mit der Frage abquälen, ob ein in der Panamakanal-Zone zur Welt gekommener Präsidentschaftskandidat einem "gebornen Bürger" einer reichsstädtischen Bürgerschaft des Jahres 1787 entspricht: Welches Bürgerrecht genoss etwa der Sohn eines Stadtsoldaten von Biberach an der Riß (freie Reichsstadt zwischen 1281 und 1805), wenn er 1787 in Lübeck (frei zwischen 1226 und 1937) zur Welt kam?

Hierzulande nimmt heute kaum ein Jurist z.B. so gut zugängliche Texte wie die Entscheidungen des Reichsgerichts oder das "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" zur Hand, um ein Auslegungsproblem seines Tagesgeschäfts zu klären. Insofern mag der Vorschlag, den US-Originalismus um deutsche und niederländische Interpretationsangebote zu ergänzen, eher drollig wirken.

An den Respekt, der damit dem Wortlaut erzeugenden Gesetzgeber entgegengebracht wird, sollten derartige Übungen aber immerhin erinnern.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Merkwürdige Verfassungsinterpretation: US-Juristen gut deitsch in den Wahnsinn treiben . In: Legal Tribune Online, 28.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13324/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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