Merkwürdige Verfassungsinterpretation: US-Juristen gut deitsch in den Wahnsinn treiben

von Martin Rath

28.09.2014

Ein alter Philosophen-Scherz geht so: Deutsche Philosophen schrieben so kompliziert, ja dunkel-raunend, dass man sie durch eine Übersetzung ins Englische erst verständlich machen (Immanuel Kant) oder als Scharlatan (Martin Heidegger) überführen sollte. Ein neuer Juristen-Scherz geht so: Um ihre eigene Verfassung verstehen zu können, müssen US-Juristen wohl Deutsch lernen. Von Martin Rath.

Womöglich fehlt es uns hierzulande zu einem wirklich demokratisch verfassten Rechtsstaat an ein paar Hunderttausendschaften fundamentalistischer Christinnen und Christen, die schon in der Sonntagsschule gelernt haben, mit beharrlichem Starrsinn die einzig wahre Bedeutung einzelner Bibelphrasen zu verteidigen. Aus Gründen des konfessionellen Pluralismus muss man ergänzen: Es herrscht natürlich auch ein eklatanter Mangel an rabulistischen Talmudgelehrten sowie schriftkundigen Muslimen, die in der Lage sind, jedes göttliche Gebot in lebenstaugliche Bedeutungen zu zerfasern. Wer beispielsweise klären kann, ob Känguru-Fleisch nach dem Gesetz des Mose oder des Mohammed rein oder unrein sei, dem ist bei der Auslegung auch bloß staatlicher Gesetze einfach mehr Scharfsinn zuzutrauen als jenen, die vom Berge Sinai  ihrer Juristenfakultät nicht göttliche Steintafeln, sondern bloß den "Palandt" herunterschleppen.

Den Wortlaut des Gesetzes linksherum und rechtsherum zu drehen, beharrlich und ohne sich auf die Autorität eines Kommentars zu verlassen, hat hierzulande nicht unbedingt die höchste Konjunktur. Ein Mandant, der dem Anwalt mit seiner Privatauslegung von "Menschenwürde" kommt, ist hoffentlich rechtsschutzversichert, weil er im Übrigen wohl ein schwieriger Kunde sein dürfte. Nein, das Bundesgesetzblatt zu lesen wie die Offenbarung eines theologischen Textes – für solche Übungen muss man ins Ausland schauen.

US-Juristen als schriftgelehrtes Vorbild

Schöne Beispiele für die beharrliche Orientierung am Wortlaut bieten, wie könnte es anders sein, US-amerikanische Juristen. Neben Auslegungstechniken, wie man sie hierzulande auch kennt, üben sie sich gelegentlich in einer originären Verfassungsinterpretation. Das kann hochpolitisch sein. Der Text der Verfassung von 1787 sieht für das höchste Regierungsamt etwa vor: "No person except a natural born Citizen, or a Citizen of the United States, at the time of the Adoption of this Constitution, shall be eligible to the Office of President…". Die Wählbarkeit zum Amt des Präsidenten hängt also davon ab, dass er "natural born Citizen" ist. Zuletzt war dies etwa beim republikanischen Kandidaten des Jahres 2008 strittig: John McCain wurde 1936 in der Panamakanal-Zone geboren – einem Territorium, dessen Zugehörigkeit zu den USA so fragwürdig sein dürfte wie die Landesbezeichnung von Krimsekt heutzutage.

Hinter den Bemühungen, die Verfassungsinterpretation auf den Wortlaut bzw. den Verständnishorizont zur Entstehungszeit der jeweiligen Norm zurückzuführen – am U.S. Supreme Court wird diese Position immerhin durch prominente Richter wie Antonin Scalia vertreten – steckt natürlich mehr als eine naive Schriftgläubigkeit religiös schlicht gestrickter Charaktere. "Originalisten" sind nicht zwingend das juristische Pendant zu den "Kreationisten" auf dem Gebiet der Biologie. Strittig ist vielmehr, wie schon zur Zeit der Verfassungsentstehung, zumeist das Verhältnis zwischen US-Bund und den Einzelstaaten. Höchst umstritten ist etwa die "Commerce Clause", die den Bundesgesetzgeber wörtlich befugt: "To regulate Commerce with foreign Nations, and among several States, and with the Indian Tribes…".

Müssen US-Juristen jetzt Deutsch lernen?

Insbesondere die "Commerce Clause" ist im Streit um die Rechte von – deutsch gesprochen – Bund und Ländern der USA extrem bedeutend, weil sie die Ermächtigungsgrundlage beispielsweise für die Bundesgesetzgebung zur Krankenversicherungspflicht, aber auch für die Drogen- oder für gewisse Waffengesetze sein kann. Je nachdem, wie weit oder wie eng man den Begriff "Commerce" juristisch interpretiert. Die von Originalisten bevorzugte enge Auslegung führt regelmäßig dazu, dass der Bund in seinen Kompetenzen beschränkt wird. Die Ermittlung des Wortsinns, den beispielsweise "Commerce" im Jahr 1787 gehabt haben mag, ist in den USA Gegenstand umfangreicher rechtsgelehrter Bemühungen.

Einen nach Auskunft seiner Entdecker bisher völlig vernachlässigten Zugang zum Verständnis der US-Verfassung könnten nun frühe Übersetzungen des US-Verfassungstextes in die deutsche und die niederländische Sprache leisten. Wie Christina Mulligan, Michael Douma, Hans Lind und Brian Quinn in ihrem Aufsatz "Founding-Era Translations of the United States Constitution" ausführen, gab beispielsweise das Parlament von Pennsylvania im September 1787 nicht nur den Druck von 3.000 englischsprachigen Verfassungstexten in Auftrag, auch 1.500 Exemplare einer deutschen Übersetzung wurden gedruckt und zur Diskussion unters verfassungsgebende Volk gebracht. Im Staat New York wurden, der niederländischen Kolonial- und Siedlungsgeschichte wegen, größere Auflagen einer Übersetzung des US-Verfassungstexts ins Niederländische verbreitet.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Merkwürdige Verfassungsinterpretation: US-Juristen gut deitsch in den Wahnsinn treiben . In: Legal Tribune Online, 28.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13324/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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