Ein alter Philosophen-Scherz geht so: Deutsche Philosophen schrieben so kompliziert, ja dunkel-raunend, dass man sie durch eine Übersetzung ins Englische erst verständlich machen (Immanuel Kant) oder als Scharlatan (Martin Heidegger) überführen sollte. Ein neuer Juristen-Scherz geht so: Um ihre eigene Verfassung verstehen zu können, müssen US-Juristen wohl Deutsch lernen. Von Martin Rath.
Womöglich fehlt es uns hierzulande zu einem wirklich demokratisch verfassten Rechtsstaat an ein paar Hunderttausendschaften fundamentalistischer Christinnen und Christen, die schon in der Sonntagsschule gelernt haben, mit beharrlichem Starrsinn die einzig wahre Bedeutung einzelner Bibelphrasen zu verteidigen. Aus Gründen des konfessionellen Pluralismus muss man ergänzen: Es herrscht natürlich auch ein eklatanter Mangel an rabulistischen Talmudgelehrten sowie schriftkundigen Muslimen, die in der Lage sind, jedes göttliche Gebot in lebenstaugliche Bedeutungen zu zerfasern. Wer beispielsweise klären kann, ob Känguru-Fleisch nach dem Gesetz des Mose oder des Mohammed rein oder unrein sei, dem ist bei der Auslegung auch bloß staatlicher Gesetze einfach mehr Scharfsinn zuzutrauen als jenen, die vom Berge Sinai ihrer Juristenfakultät nicht göttliche Steintafeln, sondern bloß den "Palandt" herunterschleppen.
Den Wortlaut des Gesetzes linksherum und rechtsherum zu drehen, beharrlich und ohne sich auf die Autorität eines Kommentars zu verlassen, hat hierzulande nicht unbedingt die höchste Konjunktur. Ein Mandant, der dem Anwalt mit seiner Privatauslegung von "Menschenwürde" kommt, ist hoffentlich rechtsschutzversichert, weil er im Übrigen wohl ein schwieriger Kunde sein dürfte. Nein, das Bundesgesetzblatt zu lesen wie die Offenbarung eines theologischen Textes – für solche Übungen muss man ins Ausland schauen.
US-Juristen als schriftgelehrtes Vorbild
Schöne Beispiele für die beharrliche Orientierung am Wortlaut bieten, wie könnte es anders sein, US-amerikanische Juristen. Neben Auslegungstechniken, wie man sie hierzulande auch kennt, üben sie sich gelegentlich in einer originären Verfassungsinterpretation. Das kann hochpolitisch sein. Der Text der Verfassung von 1787 sieht für das höchste Regierungsamt etwa vor: "No person except a natural born Citizen, or a Citizen of the United States, at the time of the Adoption of this Constitution, shall be eligible to the Office of President…". Die Wählbarkeit zum Amt des Präsidenten hängt also davon ab, dass er "natural born Citizen" ist. Zuletzt war dies etwa beim republikanischen Kandidaten des Jahres 2008 strittig: John McCain wurde 1936 in der Panamakanal-Zone geboren – einem Territorium, dessen Zugehörigkeit zu den USA so fragwürdig sein dürfte wie die Landesbezeichnung von Krimsekt heutzutage.
Hinter den Bemühungen, die Verfassungsinterpretation auf den Wortlaut bzw. den Verständnishorizont zur Entstehungszeit der jeweiligen Norm zurückzuführen – am U.S. Supreme Court wird diese Position immerhin durch prominente Richter wie Antonin Scalia vertreten – steckt natürlich mehr als eine naive Schriftgläubigkeit religiös schlicht gestrickter Charaktere. "Originalisten" sind nicht zwingend das juristische Pendant zu den "Kreationisten" auf dem Gebiet der Biologie. Strittig ist vielmehr, wie schon zur Zeit der Verfassungsentstehung, zumeist das Verhältnis zwischen US-Bund und den Einzelstaaten. Höchst umstritten ist etwa die "Commerce Clause", die den Bundesgesetzgeber wörtlich befugt: "To regulate Commerce with foreign Nations, and among several States, and with the Indian Tribes…".
Müssen US-Juristen jetzt Deutsch lernen?
Insbesondere die "Commerce Clause" ist im Streit um die Rechte von – deutsch gesprochen – Bund und Ländern der USA extrem bedeutend, weil sie die Ermächtigungsgrundlage beispielsweise für die Bundesgesetzgebung zur Krankenversicherungspflicht, aber auch für die Drogen- oder für gewisse Waffengesetze sein kann. Je nachdem, wie weit oder wie eng man den Begriff "Commerce" juristisch interpretiert. Die von Originalisten bevorzugte enge Auslegung führt regelmäßig dazu, dass der Bund in seinen Kompetenzen beschränkt wird. Die Ermittlung des Wortsinns, den beispielsweise "Commerce" im Jahr 1787 gehabt haben mag, ist in den USA Gegenstand umfangreicher rechtsgelehrter Bemühungen.
Einen nach Auskunft seiner Entdecker bisher völlig vernachlässigten Zugang zum Verständnis der US-Verfassung könnten nun frühe Übersetzungen des US-Verfassungstextes in die deutsche und die niederländische Sprache leisten. Wie Christina Mulligan, Michael Douma, Hans Lind und Brian Quinn in ihrem Aufsatz "Founding-Era Translations of the United States Constitution" ausführen, gab beispielsweise das Parlament von Pennsylvania im September 1787 nicht nur den Druck von 3.000 englischsprachigen Verfassungstexten in Auftrag, auch 1.500 Exemplare einer deutschen Übersetzung wurden gedruckt und zur Diskussion unters verfassungsgebende Volk gebracht. Im Staat New York wurden, der niederländischen Kolonial- und Siedlungsgeschichte wegen, größere Auflagen einer Übersetzung des US-Verfassungstexts ins Niederländische verbreitet.
2/2: Deutsch als halbe Amtssprache: Pennsylvanien
Für die Gründungszeit der Vereinigten Staaten wird bis heute gelegentlich die Legende kolportiert, dass Deutsch als zweite Amtssprache in Erwägung gezogen worden sei, eine entsprechende Gesetzesvorlage allein am Votum eines ausgerechnet deutschstämmigen Abgeordneten scheiterte. Tatsächlich lag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der deutsche Bevölkerungsanteil in Pennsylvania zeitweise bei rund einem Drittel, das "Pennsylvanisch-Deitsch" lässt sich noch heute lernen. Das Gerücht zur Amtssprache ist aber unhistorisch: Auf den Gedanken, eine offizielle Sprache festlegen zu sollen, kommen US-Bundesstaaten erst neuerdings – in ihren Gründerzeiten bediente man sich schlicht der englischen Sprache und warb um potenzielle Wähler ebenso pragmatisch in ihren Muttersprachen.
Über die zukünftigen Gesetzgebungsbefugnisse des US-Kongresses wurden damit die stimmberechtigten Männer Pennsylvaniens 1787 am Beispiel der "Commerce Clause" wie folgt unterrichtet: "Die Handelschaft mit auswärtigen Nationen, und unter den verschiedenen Staaten und mit den Indianer Stämmen einzurichten…", liege in der Kompetenz der Union. Die Niederländer im Staat New York erfuhren von dieser Kompetenzkompetenz: "Om de koopmanschap te reguleeren…". Das deutsche Wort "Handelschaft" lässt nun eine möglicherweise engere, das Wort "einrichten" eine weitere Auslegung zu als das englische "regulate". Die niederländische "koopmanschap" ist womöglich weniger weit als der "Commerce" – Untiefen der Verfassungswortlautinterpretation tun sich hier auf.
Um ein weiteres geldwertes Beispiel zu geben: Die Kompetenzzuordnung für das Patent- und Urheberrecht heißt im englischen Wortlaut: "To promote the Progress of Science and useful Arts by securing for limited times…", woraus im Deutsch von 1787 wurde: "Die Aufnahme der Wissenschaften und nützlichen Künste dadurch zu befördern, daß er [der Kongress] denen Autoren und Erfindern das auschliessende Recht zu ihern respectiven Schriften und Entdeckungen für eine gewisse Zeit versichert…". In den Distinktionen, die zwischen englischem Wortlaut und Übersetzung zu finden sind, können gravierende verfassungsrechtliche Grundentscheidungen verborgen liegen: Darf der US-Kongress beispielsweise Schutzrechte, die einmal eingeführt wurden, nachträglich verlängern? Gibt es einen Unterschied zwischen "limited times" und "für eine gewisse Zeit"? Und erfasst überhaupt "promote the Progress of Science" Schutzrechte für lächerliche "neue" Mobiltelefone?
Frühe Übersetzungen als jedenfalls amüsanter Kommentar
Mulligan, Douma, Lind und Quinn sind der Ansicht, dass die frühen Übersetzungen des US-Verfassungstexts eine nützliche Quelle zur Interpretation sein können. Man darf sich schon mit leicht sarkastischem Lächeln das Haareraufen beim Abgleich der normativen Leitbilder vorstellen: 1787 existierten beispielsweise in Deutschland diverse freie Reichsstädte, die über eigene Münzrechte, Stadtmauern, über Militär und – hier wird es interessant – über eigene Bürgerrechte verfügten.
Die deutsche Übersetzung, die den Bürgern Pennsylvaniens half, ihre Meinung zur jungen US-Verfassung zu klären, lautete für den US-Präsidenten: "Niemand ausser ein geborner Bürger, oder der zu der Zeit da diese Verfassung angenommen wird, ein Bürger der Vereinigten Statten ist, soll zu dem Amte eines Präsidenten wahlfähig seyn…".
Man darf es sich jedenfalls als amüsante Übung vorstellen, wollten US-Verfassungsrechtler sich nunmehr mit der Frage abquälen, ob ein in der Panamakanal-Zone zur Welt gekommener Präsidentschaftskandidat einem "gebornen Bürger" einer reichsstädtischen Bürgerschaft des Jahres 1787 entspricht: Welches Bürgerrecht genoss etwa der Sohn eines Stadtsoldaten von Biberach an der Riß (freie Reichsstadt zwischen 1281 und 1805), wenn er 1787 in Lübeck (frei zwischen 1226 und 1937) zur Welt kam?
Hierzulande nimmt heute kaum ein Jurist z.B. so gut zugängliche Texte wie die Entscheidungen des Reichsgerichts oder das "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" zur Hand, um ein Auslegungsproblem seines Tagesgeschäfts zu klären. Insofern mag der Vorschlag, den US-Originalismus um deutsche und niederländische Interpretationsangebote zu ergänzen, eher drollig wirken.
An den Respekt, der damit dem Wortlaut erzeugenden Gesetzgeber entgegengebracht wird, sollten derartige Übungen aber immerhin erinnern.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Merkwürdige Verfassungsinterpretation: US-Juristen gut deitsch in den Wahnsinn treiben . In: Legal Tribune Online, 28.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13324/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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