Ketzerei: Als die "aA" noch lebens­ge­fähr­lich war

von Martin Rath

31.10.2017

2/3: Ketzer und die Wurzel des Inquisitionsprozesses

Nicht zu beanstanden hatte das Landgericht auch die kirchenrechtliche Pfiffigkeit des Beklagten: Indem die Hochschule auch nur einen Dozenten duldete, der nach can. 1325 § 1 Codex Iuris Canonici (CIC 1917) ein Häretiker sei und nach can. 2314 § 1 CIC der Exkommunikation anheimfalle, verstoße die jesuitische Lehranstalt nach can. 2316 CIC selbst gegen den Glauben und die Einheit der Kirche.

Vereinfacht gesagt: Das Landgericht erkannte den Anspruch des Studenten auf einen Abschluss nach orthodoxer katholischer Lehre an und rechnete die Duldung der Häresie dem Bistum zu, auch wenn dieses selbst nicht Träger der Hochschule war.

Das Bundesverfassungsgericht konnte darin vier Jahre später keinen Verstoß gegen das Grundrecht des Limburger Bischofs aus Artikel 4 Grundgesetz (GG) erkennen, hatte sich das Hanauer Gericht doch gleichsam von außen dem innerkatholischen Streit genähert und ihn zu seinem zivilrechtlichen Urteil herangezogen, ohne selbst über die Richtigkeit oder Häresie zu befinden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.10.1983, Az. 1 BvR 143/80).

Häresie als Lustbarkeit in der Juristen-Fortbildung

Ein staatliches Gericht schützt einen katholischen Fundamentalisten gegen Darlehensansprüche seiner modernem Denken unter der Hand offenen Kirche? Man möchte sich nicht ausmalen, welches Geschrei das Urteil aus Hanau und der Nichtannahmebeschluss aus Karlsruhe in diesem Häresie-Fall heute auslösen würden.

Im Prinzip begrüßenswert ist es daher, dass sich bereits Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Juristen der Häresie angenommen haben, selbst wenn die Ausführung dieses Anliegens leider unzureichend blieb:

Mit Urteil vom 14. Mai 1993 hatte der Bundesfinanzhof darüber zu befinden, ob nach der Teilnahme an einer dienstlich angeordneten Studienreise von 40  Rechtsreferendaren nach Orléans und Paris die Reiseaufwendungen als Werbungskosten bei der Einkommensteuer in Abzug gebracht werden könnten.

Das Finanzgericht vertrat noch mit dem betroffenen Referendar die Auffassung, dass etwa der Besuch des "Centre Jeanne d'Arc" in Orléans dazu gedient habe, den jungen Juristen Kenntnisse über Rechtsprobleme der Häresie zu vermitteln, sei Jeanne d'Arc doch 1431 in einem kirchlichen Inquisitionsprozess wegen Ketzerei angeklagt und 1456 rehabilitiert worden.

Der Bundesfinanzhof war mit dem Finanzamt anderer Auffassung, da bei der ganzen Referendarsreise die Befriedigung touristischer Interessen von nicht nur untergeordneter Bedeutung gewesen sei (Urt. v. 14.05.1993, Az. VI R 30/92).

Ketzerverfolgung ist der Motor der Strafjustiz (gewesen)

Leider haben die Bundesfinanzrichter die sich bietende Gelegenheit nicht genutzt, einmal klarzustellen, in welcher fachlichen Tiefe sich junge Juristen mit dem Rechtsinstitut der Häresie befassen müssten, um bei ihrer Klassenfahrt nach Frankreich – mit standesmäßiger Wein-Einkaufsmöglichkeit auf der Rückfahrt nach Mainz – vom Unterhaltungs- in den Bildungswert zu wechseln.

Anlass dazu böte die z.B. vom Bremer Rechtssoziologen Stephan Quensel (1936–) zwar etwas martialisch formulierte, aber nicht ganz von der Hand zu weisende These, dass einst mit der inquisitorischen Verfolgung der Katharer im französischen Languedoc – von dieser gnostischen Glaubensrichtung stammt unser Wort "Ketzer" – eine Entwicklung ausging, die in unserer modernen Strafjustiz ihre höchste Vollendungsform erreicht habe.

Bei Quensel wirkt diese These – die in rechtshistorischen Einführungen oft sehr stumpf und langweilig mit dem bloßen Verweis auf die Herkunft unseres Inquisitionsprozesses abgehandelt wird – ein wenig böse, weil er die mittelalterliche Ketzerverfolgung mit dem Vokabular der modernen Kriminologie thematisiert. Unter dem Titel: "Die Geburt einer Sinnprovinz der Kriminalität: Die Inquisition im Languedoc" beschreibt Quensel, wie aus dem zunächst kircheninternen, mit vergleichsweise zarten Kirchenbußen geahndeten Delikt der dogmatischen Abweichlerei ein in die Gesellschaft wirkender Strafanspruch auf der Grundlage eines prima facie opferlosen Konstrukts wurde.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Ketzerei: Als die "aA" noch lebensgefährlich war . In: Legal Tribune Online, 31.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25315/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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