Länderbericht zu Gefahren für die Justiz: Igno­rieren Poli­tiker Urteile, soll Zwangs­haft drohen

von Dr. Markus Sehl

07.05.2024

Künftige Blockade des BVerfG abwenden, schärfere Sanktionen bei missachteten Urteilen, Schwachstellen in der Justiz aufdecken. Die Länder haben in einem 200-Seiten-Bericht Vorschläge für einen "wehrhaften Rechtsstaat" erarbeitet.  

Wenn es hart auf hart kommt für Rechtsstaat und Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dann ruhen alle Hoffnungen auf dem Bundesrat. So könnte man sehr grob zusammenfassen, was die Länder in einem noch unveröffentlichten Bericht vorschlagen. Das Dokument liegt LTO vor. Enthalten ist ein Gesamtpaket an Vorschlägen rund um die Absicherung des Rechtsstaats und der Justiz.

Die Länder wollen zum einen das Bundesverfassungsgericht in seiner Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit stärken, auch mit Hilfe des Bundesrats. Und sie kritisieren einen aktuellen Vorschlag zur Absicherung des BVerfG aus dem Bundesjustizministerium – wenn auch in sehr diplomatischen Tönen – als unzureichend.

Außerdem schlagen sie vor, endlich strengere Sanktionen einzuführen, falls Hoheitsträger Gerichtsurteile ignorieren. Eine Reihe solcher Fälle hatten der Justiz in der Vergangenheit Sorge bereitet. Etwa als in Bayern gerichtliche angeordnete Dieselfahrverbote übergangen oder 2018 ein mutmaßlicher Leibwächter von Osama bin Laden abgeschoben wurde – trotz anderslautender Gerichtsentscheidung. In einem anderen Fall weigerte sich die Stadt Wetzlar beharrlich, der NPD eine Stadthalle zur Verfügung zu stellen. Das neueste Szenario: Was passiert, wenn ab Herbst möglicherweise andere Hoheitsträger mit einem anderen rechtsstaatlichen Verständnis etwa in Thüringen mitregieren?

Schließlich haben die Länder ihre eigenen Landesgesetze auf Schwachstellen in der Justiz abgeklopft: Wo droht also eine Blockade bei der Richterwahl, wo eine Unterwanderung bei den ehrenamtlichen Schöffenrichtern, wodurch eine Schwächung der Landesverfassungsgerichte?

Länder preschen vor

Erarbeitet wurde das knapp 200 Seiten starke Dokument von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Wehrhafter Rechtsstaat". Deren Leitfrage war: "Wie lassen sich die freiheitlich demokratische Grundordnung und ihre Institutionen gegen Verfassungsfeinde verteidigen?" Eine Antwort hierauf in ausgearbeiteter Berichtsfassung liegt nun schon nach einem halben Jahr vor. Die Bearbeiter hatten es offenbar eilig. Den Eindruck eines Schnellschusses vermittelt das Dokument jedoch nicht, vielmehr wird in den 200 Seiten die aufwändige, kenntnisreiche und abwägende Befassung deutlich, die dem Bericht vorausgegangen sein muss.

Das Papier ist bemerkenswert. Schon wieder können sich die Länder als diejenigen präsentieren, die Überlegungen zur Resilienz mit einigem Nachdruck verfolgen. Dabei geht es zentral mit der Absicherung des BVerfG um ein Bundesgericht; dessen Zusammensetzung und Wahlverfahren neu zu regeln, liegt eigentlich im Zuständigkeitsbereich des Bundesjustizministers. Doch es war nicht Marco Buschmann, der Anfang des Jahres aus der bis dahin nur von einigen aufmerksamen Rechtswissenschaftlern geführten Diskussion, wie man das BVerfG resilienter machen kann, endlich eine rechtpolitische Debatte machte. Vielmehr waren es auch hier die Länder, die für eine Überraschung sorgten. Während in Berlin Diskussionsrunden und Konzeptpapiere liefen, legten die Länder einfach mal einen komplett ausgearbeiteten Gesetzentwurf vor, über den LTO ausführlich berichtete. Das wiederholt sich nun in gewisser Weise.

Wie die Länder das BVerfG vor Blockade schützen wollen

Die Länder fordern insbesondere, die Zweidrittelmehrheit für die Wahl der Verfassungsrichterinnen und -richter durch Bundestag und Bundesrat ins GG zu schreiben. Bislang steht die so nur im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Aus diesem absichernden Schritt folgt allerdings weiterer Lösungsbedarf. Denn die auch verfassungsrechtliche Festlegung dieses besonderen Quorums kommt zu dem Preis, dass eine politische Kraft mit mehr als einem Drittel der Stimmen eine Wahl dauerhaft blockieren könnte.

Der Bericht betont, dass es dabei nicht um die Lösung akuter Probleme geht, sondern um Vorsorge. Vorsorge "für den Fall, dass künftige Regierungsmehrheiten sich der bislang konsentierten Staatspraxis verschließen" und versuchen sollten, das BVerfG personell zu vereinnahmen und gezielt zu schwächen. Akuter als das Szenario, dass eine radikale politische Kraft auf Bundesebene eine absolute Mehrheit erreiche, sei das Erreichen einer solchen Sperrminorität, also mehr als ein Drittel.

Läuft die Amtszeit einer Richterin oder eines Richters aus, droht dem Gericht bei blockierter Neubesetzung eine Schwächung. Um die Funktionsfähigkeit aufrecht zu erhalten, schlagen die Länder mehrere Elemente für einen Ausgleichsmechanismus vor. Der Leitgedanke: Wie kann ohne ein blockiertes Wahlorgan, am ehesten also der Bundestag, dennoch eine Verfassungsrichterwahl mit ausreichender demokratischer Legitimation gelingen?

Eines der denkbaren Elemente wäre eine sogenannte Ersatzwahl. Wäre der Bundestag blockiert, könnte der Bundesrat ausnahmsweise als Ersatzorgan dann alleine – allerdings weiter mit Zwei-Drittel-Mehrheit – wählen. Dass es auch im Bundesrat zu einer parallelen Blockade kommt, erscheint den Ländern unwahrscheinlich. Dafür sorgt die gegenüber dem Bundestag andere Mehrheitsbildung: Im Bundesrat müssten vier "große" Länder mit ihren sechs Stimmen oder mindestens sechs "kleine" Länder mit ihren vier Stimmen die Wahl blockieren.

Es kommen daneben auch noch andere Ausgleichsmechanismen in Betracht, etwa ein Einspringen des Bundespräsidenten, der dann statt des blockierten Bundestags oder Bundesrats entscheiden würde. Oder eine "Poollösung" aus der Justiz, danach wird nach einem "nicht manipulierbaren" gesetzlichen Automatismus etwa der oder die dienstälteste geeignete Richterin oder Richter aus einem Pool an formal geeigneten Richterinnen und Richtern bestimmt. Auch wäre eine Kombination mehrerer Ausgleichsmechanismen denkbar.

Alle Elemente kommen nicht ohne Zugeständnisse aus, es können deshalb nur Ersatzmechanismen sein. "Ziel wäre ja gar nicht, dass sie zur Anwendung käme. Allein der Umstand, dass sie vorgesehen ist, soll zeigen: Eine Blockade gegen Richterwahlen funktioniert nicht", sagte die Vorsitzende des Rechtsauschuss im Bundestag Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) kürzlich im LTO-Interview.

Solche Ausgleichselemente überhaupt fehlen bislang in dem BMJ-Entwurf zur Resilienz des BVerfG. Die Arbeiten dauern allerdings auch noch an, das BMJ hat dabei eine zentrale Koordinationsrolle, für eine Grundgesetzänderung braucht es auch die Stimmen der Union. Die will nach anfänglichem Hin und Her inhaltlich eigene Lösungsakzente setzen. Über das Zwei-Drittel-Mehrheitserfordernis und eine Blockadelösungsmechanismus ist noch nicht entschieden. 

Der ehemalige Verfassungsrichter Johannes Masing sagte kürzlich im Interview mit Zeit Online: "Wenn man auf die beiden entscheidenden Bausteine – die Zustimmungspflicht des Bundesrates für Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und die Festschreibung der Zweidrittelmehrheit für die Richterwahl mit der genannten Regelung zur Auflösung von Blockaden – verzichtet, dann kann man das ganze Projekt auch aufgeben." Mit Gabriele Britz und Michael Eichberger waren auch zwei ehemalige Verfassungsrichter als Gäste an Treffen der Länder-Gruppe beteiligt, auch sie haben sich für eine Blockadelösung ausgesprochen.

Dafür sorgen, dass Urteile von Politik und Beamten befolgt werden

Außerdem beschäftigt sich das Länderpapier noch mit einer ganz anderen, aus Ländersicht aber für die Justiz ebenfalls elementaren Frage: Was tun, wenn Politiker oder Beamte Gerichtsentscheidungen einfach ignorieren? Die Justiz und der Rechtsstaat sind auf Akzeptanz angewiesen, Nicht-Befolgung untergräbt das Vertrauen in die Justiz. Bisher ist die Vollstreckung gegen Hoheitsträger noch recht zahm ausgestaltet. Das wird seit Jahren kritisiert.

Und dazu brauchten die Länder nun auch eigentlich gar keinen neuen Vorschlag zu machen. Denn es gibt bereits einen, den sie selbst im Frühjahr 2022 als Gesetzesvorschlag eingebracht haben. Nur passiert ist seitdem nichts. Dem Bundestag liegt der Vorschlag "nun bereits seit geraumer Zeit" vor. Die Länder wollen noch einmal freundlich "erinnern".

Sie sehen bei der Vollstreckung gegen Hoheitsträger in Deutschland kein strukturelles Defizit. Eher geht es ihnen um spektakuläre Einzelfälle, die die öffentliche Wahrnehmung von einem funktionierenden System verzerren könnten. Die Fälle von bayerischen Dieselfahrverboten bis zur Wetzlarer Stadthalle haben einen Eindruck hinterlassen.

Deshalb soll die zentrale Vollstreckungsregel in § 172 Verwaltungsgerichtsordnung angepasst werden. Das dort vorgesehene Zwangsgeld soll von 10.000 Euro auf 25.000 Euro erhöht werden. Eine Angleichung an die Regelung im Zivilprozessrecht.

Auch soll das berüchtigte "Linke-Tasche-rechte-Tasche"-Prinzip aufgebrochen werden. Denn bislang läuft es so: Muss etwa der Landesinnenminister ein Zwangsgeld zahlen, zahlt das Innenministerium das Geld an die Justizkasse im Land, die wird dort vom Justizministerium verwaltet. Das Geld wandert also nur innerhalb der Landesregierung umher. Empfindlich ist die Sanktion nicht. Statt einer Zahlung an die Gebietskörperschaft soll nach dem Gesetzesentwurf auch die Zahlung an eine gemeinnützige Organisation angeordnet werden können.

Außerdem soll ausdrücklich den Verwaltungsgerichten auch das Instrumentarium der Zwangsvollstreckungsmittel aus der Zivilprozessordnung (ZPO) zur Verfügung stehen. So könnte dann gemäß § 888 ZPO neben der Strafzahlung auch Zwangshaft verhängt werden. Leitende Beamte, Bürgermeister oder sogar Minister in Haft zu nehmen, da werden die Verwaltungsgerichte aber sorgsam abzuwägen haben. Vorstellbar ist das nur für Extremfälle.

Reminder: Pakt für den Rechtsstaat kostet

Und wenn die Länder gerade dabei sind, dann erinnern sie bei dieser Gelegenheit auch noch an ein Thema ganz in eigener Sache. Nur wer personell und sachlich mit genug Ressourcen ausgestattet ist, kann auch wehrhaft sein.

Sowohl in ihrer Außenwirkung bei den Bürgerinnen und Bürgern mit schnellen Gerichtsverfahren punkten als auch für guten Justiznachwuchs attraktiv bleiben. So scheint ihnen, "dass es sich bei der Stärkung des Rechtstaats und der Sicherstellung seiner Wehrhaftigkeit um eine grundlegende und fortlaufende Aufgabe handelt". Eine Fortsetzung und Erweiterung des Pakts für den Rechtstaat sei "deshalb unerlässlich". Konkrete Geldbeträge fordern die Länder in ihrem Bericht nicht. Im Rahmen einer Digitalisierungsinitiative erhalten sie derzeit jährlich 50 Millionen Euro vom Bund für Digitalprojekte, das ist die "Neuauflage" des Pakts für den Rechtstaat aus 2019.

Verfassungsrechtliche Schwachstellen in den Ländern?

Die rechtliche Ausgangslage in den Ländern ist sehr unterschiedlich. In einigen Ländern, wie etwa in Niedersachsen, stehen Regelungen zur Wahl und zur Arbeitsweise der Landesverfassungsgerichte bereits in den Landesverfassungen, in anderen nicht. Auch bei der Richterwahl stellt sich die Lage von Land zu Land anders dar: Einige Länder wie etwa Thüringen haben einen Richterwahlausschuss, also ein Gremium aus Parlamentariern und Justizvertretern, andere Länder haben das nicht. Die Frage nach einer Blockade dieses für die Justiz zentralen Gremiums stellt sich also nicht bundesweit gleichermaßen.

Auch der Ausschluss von verfassungsfeindlichen Kandidaten für das Schöffenrichteramt beschäftigt die Länder. Eine Recherche von LTO zeigte, dass es Einzelfälle von Extremisten unter den 60.000 ehrenamtlichen Richtern gibt und gab, allerdings vor allem die Unklarheit und die Uneinheitlichkeit bei der Auswahl für Unsicherheit sorgt. Die Länder erwägen die Auswahl zu reformieren. Etwa Thüringen stellt fest, dass das Verfahren mit öffentlicher Auslegung einer Kandidatenliste nicht mehr zeitgemäß ist. Es könne seine Kontrollfunktion nicht mehr erfüllen. Auch fehlten den zuständigen Stellen in den Kommunen Erkenntnisse und Informationsquellen. Thüringen spricht sich deshalb für die Schaffung bundeseinheitlicher Standards für die Schöffenauswahl aus.

Vorstellen will die Gruppe ihren Bericht und seine Empfehlungen auf der nächsten Justizministerkonferenz am 5. und 6. Juni in Hannover, federführend ist Hamburg. Spätestens dann wird sich zeigen, ob die Vorarbeiten der Länder auf Bundesebene aufgegriffen werden.

Zitiervorschlag

Länderbericht zu Gefahren für die Justiz: Ignorieren Politiker Urteile, soll Zwangshaft drohen . In: Legal Tribune Online, 07.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54503/ (abgerufen am: 19.05.2024 )

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