Der Gesetzentwurf zur Bild-Ton-Aufzeichnung im Strafverfahren stößt bei den OLG-Präsidenten auf wenig Gegenliebe. Die Pläne würden die Maximen des Strafprozesses gefährden, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.
Mit seinen Plänen für eine Videoaufzeichnung von Hauptverhandlungen im Strafprozess hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) viele Richterinnen und Richter gegen sich aufgebracht. Das Vorhaben gefährde alle drei Maximen des Strafprozesses: die Wahrheitsfindung, die Gerechtigkeit und den Rechtsfrieden, heißt es in einem aktuellen Beschluss der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte (OLG), des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs (BGH).
Der von Buschmann im November vorgelegte Referentenentwurf "für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung" sieht vor, die Hauptverhandlung künftig in Bild und Ton aufzuzeichnen und die Tonaufzeichnung mittels Transkriptionssoftware in ein Textdokument umzuwandeln. In dem Entwurf heißt es, bislang stehe den Verfahrensbeteiligten "keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung zur Verfügung". Sie müssten als Gedächtnisstütze eigene Notizen anfertigen. "Das hat zur Folge, dass sich die Verfahrensbeteiligten nicht immer vollumfänglich auf das Geschehen in der Hauptverhandlung konzentrieren können." Auch könnten Meinungsverschiedenheiten entstehen, da die Mitschriften nicht erschöpfend sein könnten und subjektiv geprägt seien.
Grundsätzlich begrüße man gesetzgeberische Maßnahmen zur Modernisierung des Strafprozesses, heißt es in der gemeinsamen Stellungnahme. Voraussetzung sei jedoch, dass die Maßnahmen geeignet sind, die Maximen des Strafprozesses zu fördern und die bisherigen gesetzgeberischen Reformmaßnahmen zur Beschleunigung und Effektivierung des Strafprozesses nicht zu entwerten. Dem werde der Referentenentwurf nicht gerecht. "Die Präsidentinnen und Präsidenten lehnen den Gesetzentwurf in der vorgelegten Form daher geschlossen ab", heißt es im Beschluss.
In anderen Staaten läuft es auch nicht besser
Laut den OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten fehle es schon an empirischen Erkenntnissen, ob die audiovisuelle Dokumentation eine bessere Wahrheitsfindung gewährleiste oder gar Fehlurteile verhindern könne. So sei nicht ersichtlich, dass sich die Häufigkeit von Fehlurteilen in Ländern wie Spanien oder Schweden durch die Dokumentation verringert hätte. Auch sei nicht erkennbar, dass etwa die Strafrechtspflege in den USA, in denen seit jeher ein vollständiges Audiotranskript erfolgt, im Lichte der Maximen des Strafprozesses leistungsfähiger wäre. "Andere Rechtsordnungen kennen weder das deutsche Unmittelbarkeitsprinzip noch das deutsche Beweisantrags- und Befangenheitsrecht", weshalb die vom Entwurf bemühte rechtsvergleichende Prämisse nicht trage.
Die Richterinnen und Richter weisen auch auf mögliche Schwierigkeiten bei der Vernehmung von Opfern als Zeugen hin. Sie warnen: "Opferzeugen werden bei der ohnehin schon als zermürbend empfundenen Vernehmungssituation durch eine Aufzeichnung in dem Wissen um eine jederzeitige Verbreitungsmöglichkeit zusätzlich belastet". Die Gefahr einer missbräuchlichen Veröffentlichung in sozialen Netzwerken berge das Risiko einer Retraumatisierung der Betroffenen. Auch Angeklagte könne das Wissen um eine Aufzeichnung und die damit einhergehende Möglichkeit einer unbefugten Verbreitung "einschüchtern".
Sollte ein Transkript der Aufnahme während der laufenden Hauptverhandlung bei einem noch nicht vernommenen Zeugen landen, könnte dies zudem dessen Aussageverhalten beeinflussen. Auch seien die technischen Anforderungen nicht hinreichend geklärt.
Richter befürchten "Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme"
Der Entwurf gefährde auch die Gerechtigkeit. "Bereits heute werden nirgendwo so viele personelle und finanzielle Ressourcen in der Strafrechtspflege gebunden wie in Deutschland", heißt es in dem Beschluss. Die Tatsacheninstanz würde sich durch die Aufzeichnung aufblähen und verzögern. Es bestehe die Gefahr, dass sich die Gerichte in hochstreitigen Verfahren mit einer "Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme" befassen müssten. Das schwäche das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine funktionierende Strafjustiz.
Buschmann wäre gut beraten, "die einhellig und mit großer Vehemenz vorgetragenen Bedenken aufzunehmen und das Vorhaben grundlegend zu überdenken", sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn. Der Entwurf zeuge von einer mangelnden Sensibilität für die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten.
Unterstützt wird Buschmanns Vorhaben dagegen vom Deutschen Anwaltverein (DAV). Er hatte Ende Januar erklärt: "Der Prozess der Wahrheitsfindung würde nicht nur transparenter, sondern auch für das Gericht einfacher, da etwa die Übereinstimmung von Zeugenaussagen leichter überprüfbar wären." Dass sich deutsche Richter noch handschriftliche Notizen machten, wirke "aus der Zeit gefallen". BGH-Richter Prof. Dr. Andreas Mosbacher sprach sich in einem Gastbeitrag für LTO dafür aus, auf die Videoaufzeichnung zu verzichten und stattdessen nur den Ton aufzunehmen.
acr/LTO-Redaktion
mit Materialien der dpa
Gemeinsame Erklärung der OLG-Präsidenten: . In: Legal Tribune Online, 09.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51265 (abgerufen am: 08.12.2024 )
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