Justizverweigerung als Inszenierung: Jeder ist abhängig vom Rechts­staat

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus F. Gärditz

17.07.2018

Aus politischem Opportunismus werden gerichtliche Entscheidungen ignoriert. Dies untergräbt das institutionelle Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaats, von deren Funktionieren im Ernstfall alle abhängig sind, meint Klaus F. Gärditz.

Wenn eine Gesellschaft schleichend verroht und die Hemmschwellen zur verbalen Eskalation sinken, bleibt auch die Dritte Gewalt von den Folgen nicht verschont: Ein Oberbürgermeister setzt sich über eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hinweg, das die Stadt verpflichtet hatte, eine Stadthalle an eine rechtsextremistische Partei für eine Wahlkampfveranstaltung zu vermieten. Er wird für diese plumpe Rechtsverweigerung bewundert; die kommunale Szene hält zusammen. Ein rechtskräftiges verwaltungsgerichtliches Urteil, das zur Fortschreibung einer unzureichenden Luftreinhalteplanung verpflichtet, wird ohne Vollstreckungsdruck nicht umgesetzt, weil es politisch inopportun erscheint. Ein sichtbarer Bundespolitiker diskreditiert die verfassungs- sowie unionsrechtlich garantierte und gesetzlich vorgesehene Inanspruchnahme von Rechtsschutz abgelehnter Asylbewerber als "Anti-Abschiebe-Industrie", die sich gegen "Bemühungen des Rechtsstaats" richte, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. 

Solche Rhetorik trägt anscheinend Früchte: Nunmehr wurde eine Abschiebung von der Verwaltung unter eklatanter Vereitelung gerichtlichen Eilrechtsschutzes durchgeführt. Es ging um den prominenten Fall einer als Gefährder eingestuften Person, an deren Abschiebung gewiss ein dringliches Interesse bestand. Gerade deshalb hätte man hier ein sorgfältiges, rechtlich einwandfreies Vorgehen erwarten dürfen, keine interföderal konzertierten Taschenspielertricks.

Nur Einzelfälle?

Dies sind zunächst nur Einzelfälle. Für manchen Politiker aus der mittleren Reihe mag die Geringschätzung der Rechtsprechung auch gar nicht Ziel, sondern nur billige Gelegenheit sein, sich für einen flüchtigen Moment den Rausch medialer Aufmerksamkeit zu verschaffen. Auch Missachtung von Urteilen gab es schon früher ganz vereinzelt. Gleichwohl wären solche offenen und provokativ inszenierten Rechtsverweigerungen noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar gewesen. Eine Vollstreckung gegen die öffentliche Hand ist zwar in §§ 170 ff. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vorgesehen, spielt aber in der Praxis kaum eine Rolle, weil man sich verbindlichen Entscheidungen schlicht beugt. Erst recht war bislang die Beachtung von Entscheidungen des BVerfG eine Selbstverständlichkeit.

Dass es nunmehr gehäuft – und weitgehend folgenlos – zu Justizboykotten kommt, die die institutionelle Architektur des Rechtsstaats untergraben, ist Ausdruck einer latenten Verrohung unserer Rechtskultur. Es ventiliert sich eine mit spätpubertärem Rebellen-Gestus zur Schau gestellte Geringschätzung der rechtlichen Form.

Unabhängige Justiz als Standortvorteil

Die Stabilität eines demokratischen Rechtsstaats und seine Konfliktlösungsfähigkeit hängen vor allem von einer breiten Akzeptanz der Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen ab. Gerichte nehmen aufgrund ihrer institutionalisierten Neutralität und Distanz zu den interessengeleitet Handelnden eine herausgehobene Stellung ein. Sie symbolisieren als Verkörperung der Rechtlichkeit öffentlicher Gewalt den institutionellen Rechtsstaat und machen Rechtspflege sichtbar, die für alle Menschen verfügbar ist. Eine korruptionsresistente, praktisch wirksame und unabhängige Justiz, die rechtsgebunden berechenbare Konfliktentscheidung bietet, ist immer noch einer der größten Standortvorteile, den unser Land zu bieten hat. Dessen Bedeutung wird im sich verschärfenden Wettbewerb mit aufsteigenden Staaten, die eine rechtsblinde Effizienz zur Legitimationsquelle autoritärer Ordnung machen, weiter zunehmen.

Von respektierten und funktionierenden Institutionen des Rechtsstaats hängen wir alle gleichermaßen ab. Wer aus politischem Opportunismus verbindliche Entscheidungen verweigert, untergräbt das Fundament, auf das alle angewiesen sind, die ihr Recht einmal gegen Widerstände durchsetzen müssen. Respekt vor einer neutralen Gerichtsbarkeit als Streitentscheidungsinstanz ist die Grundlage, die ein friedliches Austragen politischer Konflikte erst ermöglicht und wechselseitige Zumutungen erträglich macht.

Akzeptanz von Rechtsprechung ist keine Gewissensfrage

Die Akzeptanz von Rechtsprechung ist keine Gewissensfrage, sondern Konsequenz institutionell arbeitsteiliger Rechtsanwendung. Gerichte haben hier die Kompetenz des letzten Wortes. Jedes Organ, das öffentliche Gewalt ausübt, kann (und muss) sich allerdings schon kraft der allgemeinen Rechtsbindung eine eigene Rechtsauffassung bilden, wenn es geltendes Recht anzuwenden hat. Dies schließt es auch ein, die von einem Gericht vertretene Position ggf. zu kritisieren.

Grundsätzlich ist es sogar möglich, eine höchstrichterlich vertretene Rechtsauslegung, von deren Fehlerhaftigkeit man überzeugt ist, in anderen (!) Fällen – auf eigenes Prozessrisiko, aber mit der Chance eines besseren Arguments – abzulehnen ("Nichtanwendungserlass"). Eine über die Prozessparteien hinausgehende Bindung an Entscheidungen und ihre tragenden Gründe ist nur für das BVerfG vorgesehen (§ 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Demgegenüber muss jede Partei eines Prozesses, gegen die eine Entscheidung ergeht, die verbindlichen Folgen eines Urteils- oder Beschlusses gegen sich gelten lassen.

Nun kommt es immer wieder vor, dass sich Verlierer eines Rechtsstreits unzufrieden bzw. uneinsichtig zeigen, sich Urteilen nicht beugen oder sich der Vollstreckung widersetzen. Dies ist für einen freiheitlichen Rechtsstaat, der von seinen Bürgern keine allgemeine Tugendhaftigkeit einfordert, kein grundsätzliches Problem. Recht wird notfalls zwangsweise durchgesetzt, Widerstand wird mit verhältnismäßigen Mitteln gebrochen.

Verheerend ist es aber, wenn sich ein rechtsgebundener Träger öffentlicher Gewalt offen der Befolgung von verbindlichen Gerichtsentscheidungen entzieht. Die Rechtsbindung der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) kennt keine Ausnahmen. Setzt sich die Verwaltung über bindende Entscheidungen hinweg, handelt sie nicht einfach nur rechtswidrig. Vielmehr missbraucht sie die ihr zum Zwecke amtlichen Handelns übertragene Hoheitsgewalt, um zu demonstrieren, dass man sich sanktionslos den Bindungen des Rechts entwinden kann. Amtlichkeit wird hier durch politische Opportunität nach persönlichen Präferenzen ersetzt – eine Privatisierung des Gemeinwohls.

Rechtsbefolgung als Staatsräson

Gewiss unterlaufen einer Verwaltung bisweilen Fehler. Und die demokratisch notwendige – nämlich Legitimation sichernde – Verkoppelung der administrativen Leitungsebene mit der Politik führt zu spannungsreichen Interessenkonflikten, schon weil politisches Handeln etwas anderes ist als schlichter Gesetzesvollzug. Irritierend ist aber die Folgenlosigkeit dreister Rechtsvereitelung.

Wer eine offene Missachtung gerichtlicher Entscheidungen durch Amtsträger der Verwaltung hinnimmt, erodiert das Fundament der rechtsstaatlichen Friedensordnung, auf die man sich sonst so gerne beruft. Es wird zugleich Glaubwürdigkeit verspielt, die wir brauchen, um selbstbewusst gegenüber anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, deren Justiz zunehmend in Bedrängnis gerät, diejenige Rechtsstaatlichkeit einzufordern, die einmal Bedingung einer Mitgliedschaft war.

Dass die amtierende Bundesjustizministerin anlässlich des Falles Sami A. mit deutlichen Worten einer Verwaltungskultur entgegengetreten ist, in der sich Behörden aussuchen, ob sie Gerichtsentscheidungen befolgen möchten oder lieber einmal nicht,  war daher richtig. Notwendig wäre es darüber hinaus aber, die Möglichkeiten des Disziplinarrechts zu nutzen, um verantwortliche Beamte zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten anzuhalten. Wer die Befolgung gerichtlicher Entscheidungen verweigert, begeht ein Dienstvergehen, das das Ansehen des Dienstherrn erheblich beschädigt und zu sanktionieren ist.

Institutionelles Rechtsvertrauen kann bröckeln, Grundstimmungen können kippen, die Errungenschaften des liberalen Rechtsstaats wieder in Frage gestellt werden. Deutschland ist keine justizpolitische Insel, die von gesamteuropäischen Entwicklungen isoliert bleibt. Ein Blick auf Nachbarstaaten wie Polen und Ungarn zeigt die korrosiven Folgen beharrlicher Aggression gegen die Justiz. Auch wenn wir davon entfernt sind, gilt gerade jetzt, die schädliche Eskalation zu beenden: Die Unabhängigkeit der Justiz, die strikte Beachtung verbindlicher Gerichtsentscheidungen und die wirksame Durchsetzung des Rechts gerade auch gegen den Staat sind Staatsräson.

Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Klaus F. Gärditz, Justizverweigerung als Inszenierung: Jeder ist abhängig vom Rechtsstaat . In: Legal Tribune Online, 17.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29809/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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