NS-Medizinverbrechen: Zweieinhalb Pfennig Schadensersatz

von Martin Rath

04.05.2014

2/2: Kleinste Münze des Königreichs

Als Ausdruck britischer Fairness galt es denn auch, dass der Richter der Jury daran zu denken auftrug, dass sie nicht Teil eines Kriegsverbrechertribunals seien, sondern einen Zivilfall nach englischem Recht ("according to the law of England") zu entscheiden und damit zu prüfen hätten, ob es Uris gelungen sei zu beweisen, dass Dering die nachgewiesenen 130 Operationen absichtlich als Teil des größer angelegten Ausrottungsplans ausgeführt habe, er dies in antisemitischer bzw. in der Absicht tat, sich Gefälligkeiten seiner NS-Vorgesetzten zu erwerben, und er die Operationen herzlos und grausam vornahm.

Am 6. Mai 1964, 11:55 Uhr, zog sich die Jury zurück, um keine drei Stunden später die Entscheidung bekannt zu geben: Sie urteilte in der Sache zugunsten des Klägers. Aber auf die Frage, welche Summe sie ihm zuspreche, folgte ein: "One halfpenny", umgerechnet, wenn man dem Spiegel glauben darf, waren dies zweieinhalb Pfennige Deutscher Mark. Dering blieb zudem mit erheblichen Verfahrenskosten beschwert.

In der Hauptsache im Recht, in der Rechtsfolge mit einer beschämenden Summe abgespeist, erlaubt das Urteil zwar, an ein verstohlen moralisches Verdikt der Jury gegen Dering zu glauben. Jedoch war es mangels anderer Formen von Rechtschutz in Persönlichkeitssachen im englischen Recht nicht unüblich, wenn eine Jury einem Kläger "die kleinste Münze des Königreichs" zusprach, weil sie nur eine "formaljuristische" Verletzung seiner Rechte erkennen mochte.

Immerhin hatte Dering erreicht, worum es ihm nach eigenem Bekunden eigentlich ging: die Streichung seines Namens aus Uris' Auflistung einiger der bekanntesten NS-Medizinverbrecher.

Uris schreibt noch einen Roman

Den Verleumdungsprozess, den Dering gegen ihn angestrengt hatte, verarbeitete Leon Uris 1970 im Roman "QB VII", der 1974 mit Anthony Hopkins in der Rolle eines Dr. Adam Kelno verfilmt wurde. Der Roman ist, nach der deutschen Ausgabe von 1971/1982 zu urteilen, ein tendenziell beschämendes Machwerk, das zwar um Erklärungen für das Verhalten von Kelno/Dering bemüht ist, ihm aber auch sinnwidrige Ausfälle andichtet. Uris Roman-Doppelgänger wird zum Helden aufplustert, während die wenigen Menschen, die hier in Ehren zu halten sind, die Ärztinnen Dorota Lorska und Adélaïde Hautval, denkbar farblos nachgezeichnet werden. Insgesamt lässt sich der Roman heute als Fallbeispiel für die Unterschiede zwischen journalistischen und juristischen, historischen und literarischen Wahrheitsansprüchen lesen, der Journalist Jack Winnocour zeigte, wie sich besser über eine solche Rechtssache schreiben lässt.

Władysław Alexander Dering verstarb bereits 1965 in London. Eine Auseinandersetzung darüber, ob an ihn als Täter, als Opfer oder beides zugleich zu erinnern ist, steht aus. In einem Nachruf auf den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968), der in die Zeugensuche von Uris' Anwälten involviert gewesen war, findet sich der Hinweis auf ein Paradox, in das Dering ansatzweise, Bauer tief verstrickt war: Wie war es mit den aufgeklärten Ideen von Spezial- und Generalprävention zu vereinbaren, die sozial so gut in die Nachkriegsgesellschaften integrierbaren NS-Täter strafrechtlich zu belangen?

Die drei Doktoren, mit denen Dering seit dem 6. Mai 1964 in England nicht in einer Reihe genannt werden wollte, nahmen folgendes Ende: Eduard Wirths starb 1945 in einem englischen Internierungslager an den Folgen eines Suizidversuchs, Carl Clauberg, 1957 aus sowjetischer Haft nach Deutschland zurückgekehrt, bevor ihm in der Bundesrepublik der Prozess gemacht werden konnte. Horst Schumann gelang das perfekte Verbrechen: Von bestenfalls unbeholfenen Ermittlungen betroffen, gelang ihm in den 1950er-Jahren die Flucht nach Afrika, zu einem Strafverfahren kam es – wegen medizinischer Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit – nicht. Er starb, seit 1971 war das Verfahren eingestellt, 1983 den Tod eines freien Rentners.

Zitiervorschlag

Martin Rath, NS-Medizinverbrechen: Zweieinhalb Pfennig Schadensersatz . In: Legal Tribune Online, 04.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11848/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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