Mit einer Verleumdungsklage gegen den US-Bestseller-Autor Leon Uris erhielt der Londoner Arzt Władysław Dering 1964 zwar Recht, der Schadensersatz fiel jedoch gering aus. Gestritten wurde über eine Aussage im Roman "Exodus" über Derings Funktion als Häftlingsarzt im KZ Auschwitz. Eine Fallgeschichte, nacherzählt und einsortiert von Martin Rath.
Dr. Władysław Dering hatte an sich gute Aussichten, seinen Lebensabend als niedergelassener Arzt im Norden Londons zu verbringen, beliebt bei seinen Patienten und ausgezeichnet als Ex-Beamter des britischen Imperiums. Kurz bevor sein Leumund in Verruf geriet war er im Namen der Königin mit der persönlichen Adelswürde ausgestattet worden, hatte er doch in den 1950er-Jahren ein Krankenhaus im britischen Protektorat Somalia geleitet, ja aufgebaut. Ein Auslieferungsgesuch der kommunistischen Regierung seines Geburtslands, das nun als Volksrepublik Polen firmierte, war 1948 abgewiesen worden. Eine Beteiligung an Kriegsverbrechen konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden, die britischen Behörden baten Dering wegen der Haft um Entschuldigung.
Der 1903 geborene Władysław Alexander Dering arbeitete nach dem Medizinstudium in Warschau in der Geburtshilfe und war 1940 im KZ Auschwitz inhaftiert worden, wo er schließlich als sogenannter Häftlingsarzt rekrutiert wurde. Seine Funktion wurde 20 Jahre später zum Gegenstand zivilrechtlicher Auseinandersetzungen. Ein Satz im Roman "Exodus" des US-Schriftstellers Leon Uris (1924-2003), bereits 1958 erschienen und 1960 als Epos von der Staatsgründung Israels verfilmt, veranlasste Dering, gegen den Autor und seine britischen Verleger rechtlich vorzugehen.
Es ging um diese Aussage des Romans: "Hier in Block X benutzte Dr. Wirths Frauen als Meerschweinchen und Dr. Schumann machte Menschen durch Kastration und mittels Röntgenstrahlung unfruchtbar. Clauberg entnahm Eierstöcke und Dr. Dehring [sic!] führte 17.000 chirurgische 'Experimente' ohne Narkose aus."
Erster britischer "Auschwitzprozess" in London
Während der Drucker der britischen "Exodus"-Ausgabe der Schadensersatzforderung von Derings Anwälten bald nachgab, ein schlichtes Unterlassungsbegehren kannte das englische Recht nicht, ließen es Uris und sein Verlag auf den Prozess wegen Verleumdung ankommen, der ab dem 13. April 1964 vor einer Jury im "Queen's Bench Courtroom II" im Londoner High Court of Justice geführt wurde. Im Gegensatz zum Frankfurter Auschwitzprozess von 1964/65 erfuhr das Verfahren nicht zuletzt deshalb vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit, weil der Richter, Sir Frederick H. Lawton, den Presseleuten drohte, sie bei unangemessener Berichterstattung – etwa der Namensnennung von Opfern der NS-Medizinverbrechen – wegen Missachtung des Gerichts zu sanktionieren.
Die Drohung war nicht ohne Grund. Uris' Anwälten war es, unter anderem dank Hinweisen des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, gelungen, eine Reihe von Zeugen beizubringen, die jedenfalls die Behauptung stützen sollten, dass Dering im Dienst der NS-Mediziner an beklemmenden, der ärztlichen Ethik widerwärtigen Operationen beteiligt war und sich namentlich gegenüber jüdischen Versuchsopfern besonders brutal und insgesamt menschenverachtend betätigt hatte. Vielen Zeugen waren in Auschwitz bei bestenfalls lokalanästhetischer Betäubung die Eierstöcke bzw. Hoden entfernt worden, sie blieben auch als Überlebende tief traumatisiert.
Erstmals hörte nun ein Gericht im britischen Mutterland, eine Jury von zehn Männern und zwei Frauen aus dem Bezirk Middlesex, von dieser Teilgeschichte der Medizinerverbrechen, mit denen die NS-Führung eine mittelfristige Ausrottung großer Bevölkerungsgruppen im eroberten Osten vorbereiten wollte. Die Jury hörte von makabren Scherzen, von Ärzten, die im Zusammenhang mit zwangsweise und eilig ausgeführten Kastrationen über "Rührei" spaßten. Die Jury erfuhr von den widerständigen Häftlingsärztinnen Dr. Dorota Lorska (1913-1965) und Dr. Adélaïde Hautval (1906-1988), einer nachgerade erschreckend tapferen französischen Medizinerin, dass die Weigerung, an medizinisch nicht-indizierten Eingriffen teilzunehmen, keine gravierenden Konsequenzen hatte, mithin das Argument von Dering, unter Befehlsnotstand agiert zu haben, zweifelhaft war.
Justiz in Seide und Perücke verhandelt NS-Verbrechen
Welche Welten in diesem Prozess aufeinanderstießen, zeigten die kleinen, fast komischen Details der Prozessführung: Nachdem Dering als Zeuge in eigener Sache vereidigt worden war, fragte Richter Lawson ausdrücklich, ob er den Eid auf die richtige Bibelausgabe abgelegt habe. Als Lawson hörte, dass Dering römisch-katholischer Konfession sei, wies er den Gerichtsdiener an, die Vereidigung mit der katholischen Dounai-Übersetzung anstelle der sonst üblichen anglikanischen King-James-Bibel zu wiederholen.
Ein Beispiel für die Unaufgeregtheit, die wohl nur eine konservative und in jahrhundertealten Formen und Ritualen arbeitende Justiz erlaubt, gab auch der Richter in Person: Es wurde bekannt, dass der Right Honourable Sir Frederick Horace Lawton (1911-2001) sich in den 1930er-Jahren bei Oswald Mosleys britischen Faschisten engagiert hatte. An seiner Moderation im Jury-Prozess "Dering v Uris & Co." setzten Beobachter jedoch nichts aus, obschon Lawton durchaus zu jenen Richtern zählte, die ob ihrer Bärbeißigkeit von britischen Medien geliebt werden. In einem Kriminalprozess erklärte er dem Angeklagten beispielsweise schon einmal, wie unerfreulich es doch sei, mit ihm in einer Gesellschaft leben zu müssen.
2/2: Kleinste Münze des Königreichs
Als Ausdruck britischer Fairness galt es denn auch, dass der Richter der Jury daran zu denken auftrug, dass sie nicht Teil eines Kriegsverbrechertribunals seien, sondern einen Zivilfall nach englischem Recht ("according to the law of England") zu entscheiden und damit zu prüfen hätten, ob es Uris gelungen sei zu beweisen, dass Dering die nachgewiesenen 130 Operationen absichtlich als Teil des größer angelegten Ausrottungsplans ausgeführt habe, er dies in antisemitischer bzw. in der Absicht tat, sich Gefälligkeiten seiner NS-Vorgesetzten zu erwerben, und er die Operationen herzlos und grausam vornahm.
Am 6. Mai 1964, 11:55 Uhr, zog sich die Jury zurück, um keine drei Stunden später die Entscheidung bekannt zu geben: Sie urteilte in der Sache zugunsten des Klägers. Aber auf die Frage, welche Summe sie ihm zuspreche, folgte ein: "One halfpenny", umgerechnet, wenn man dem Spiegel glauben darf, waren dies zweieinhalb Pfennige Deutscher Mark. Dering blieb zudem mit erheblichen Verfahrenskosten beschwert.
In der Hauptsache im Recht, in der Rechtsfolge mit einer beschämenden Summe abgespeist, erlaubt das Urteil zwar, an ein verstohlen moralisches Verdikt der Jury gegen Dering zu glauben. Jedoch war es mangels anderer Formen von Rechtschutz in Persönlichkeitssachen im englischen Recht nicht unüblich, wenn eine Jury einem Kläger "die kleinste Münze des Königreichs" zusprach, weil sie nur eine "formaljuristische" Verletzung seiner Rechte erkennen mochte.
Immerhin hatte Dering erreicht, worum es ihm nach eigenem Bekunden eigentlich ging: die Streichung seines Namens aus Uris' Auflistung einiger der bekanntesten NS-Medizinverbrecher.
Uris schreibt noch einen Roman
Den Verleumdungsprozess, den Dering gegen ihn angestrengt hatte, verarbeitete Leon Uris 1970 im Roman "QB VII", der 1974 mit Anthony Hopkins in der Rolle eines Dr. Adam Kelno verfilmt wurde. Der Roman ist, nach der deutschen Ausgabe von 1971/1982 zu urteilen, ein tendenziell beschämendes Machwerk, das zwar um Erklärungen für das Verhalten von Kelno/Dering bemüht ist, ihm aber auch sinnwidrige Ausfälle andichtet. Uris Roman-Doppelgänger wird zum Helden aufplustert, während die wenigen Menschen, die hier in Ehren zu halten sind, die Ärztinnen Dorota Lorska und Adélaïde Hautval, denkbar farblos nachgezeichnet werden. Insgesamt lässt sich der Roman heute als Fallbeispiel für die Unterschiede zwischen journalistischen und juristischen, historischen und literarischen Wahrheitsansprüchen lesen, der Journalist Jack Winnocour zeigte, wie sich besser über eine solche Rechtssache schreiben lässt.
Władysław Alexander Dering verstarb bereits 1965 in London. Eine Auseinandersetzung darüber, ob an ihn als Täter, als Opfer oder beides zugleich zu erinnern ist, steht aus. In einem Nachruf auf den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968), der in die Zeugensuche von Uris' Anwälten involviert gewesen war, findet sich der Hinweis auf ein Paradox, in das Dering ansatzweise, Bauer tief verstrickt war: Wie war es mit den aufgeklärten Ideen von Spezial- und Generalprävention zu vereinbaren, die sozial so gut in die Nachkriegsgesellschaften integrierbaren NS-Täter strafrechtlich zu belangen?
Die drei Doktoren, mit denen Dering seit dem 6. Mai 1964 in England nicht in einer Reihe genannt werden wollte, nahmen folgendes Ende: Eduard Wirths starb 1945 in einem englischen Internierungslager an den Folgen eines Suizidversuchs, Carl Clauberg, 1957 aus sowjetischer Haft nach Deutschland zurückgekehrt, bevor ihm in der Bundesrepublik der Prozess gemacht werden konnte. Horst Schumann gelang das perfekte Verbrechen: Von bestenfalls unbeholfenen Ermittlungen betroffen, gelang ihm in den 1950er-Jahren die Flucht nach Afrika, zu einem Strafverfahren kam es – wegen medizinischer Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit – nicht. Er starb, seit 1971 war das Verfahren eingestellt, 1983 den Tod eines freien Rentners.
Martin Rath, NS-Medizinverbrechen: Zweieinhalb Pfennig Schadensersatz . In: Legal Tribune Online, 04.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11848/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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