Seit 2020 gilt das neue Polizeigesetz in Mecklenburg-Vorpommern. Nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Es ist teilweise verfassungswidrig. Mehrere Vorschriften zu Überwachungsmaßnahmen seien nicht verhältnismäßig.
Die ausgeweiteten Ermittlungsbefugnisse der Polizei in Mecklenburg-Vorpommern sind teilweise verfassungswidrig. Das entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit am Mittwoch veröffentlichtem Beschluss und gab damit der Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) und des Bündnisses "SOGenannte Sicherheit" statt (Beschl. v. 9.12.2022, Az. 1 BvR 1345/21).
Konkret geht um die Neuregelungen verschiedener Ermittlungsbefugnisse im Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG MV), die am 5. Juni 2020 in Kraft getreten waren. Sie sehen insbesondere weitgehende Befugnisse der Polizei im Bereich der Datenerhebung, der Wohnraum- und Telekommunikationsüberwachung und der Rasterfahndung vor.
So können beispielsweise in großem Umfang verdeckte Ermittler und Vertrauenspersonen eingesetzt, Wohnungen heimlich überwacht, Computer, Smartphones oder Tablets mit Hilfe sogenannter Staatstrojaner ausgespäht und Telefongespräche abgehört werden. Ziel sei eine wirkungsvollere Bekämpfung von Terrorismus, Online-Kriminalität und Kinderpornografie, hieß es 2020 seitens des Landtags. Kritiker hatten in der Reform massive Einschränkungen der Bürgerrechte gesehen.
Keine Eingriffe im Vorfeld einer konkreten Gefahr
Die angegriffenen Regelungen sind mit dem Grundgesetz - namentlich mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der informationellen Selbstbestimmung, teils auch in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, mit dem Fernmeldegeheimnis und der Unverletzlichkeit der Wohnung - unvereinbar, bestätigte nun das BVerfG. Die angegriffenen Vorschriften seien vor allem deshalb zum Teil verfassungswidrig, weil sie den in ständiger Rechtsprechung konkretisierten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an heimliche Überwachungsmaßnahmen der Polizei nicht vollständig genügten. Sie ermächtigten die Polizeibeamten zu weitgehenden Eingriffen schon im Vorfeld einer konkreten Gefahr, beanstandeten die Karlsruher Richter.
So könnten nach den bisherigen Regelungen einschneidende Maßnahmen wie längerfristige Observationen, Durchsuchungen und Rasterfahndungen bereits vorgenommen werden, wenn "Tatsachen die Annahme der Begehung" bestimmter Straftaten rechtfertigen. Dies bleibe hinter den Anforderungen an eine wenigstens konkretisierte Gefahr zurück, so die Richter.
Verfassungsrechtlich unzureichend seien die Neuregelungen auch mit Blick auf den erstmals näher konturierten Kernbereichsschutz beim Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckt Ermittelnden. In dem Zuge stellte das Gericht Vorgaben für das Verhalten der Ermittler auf: Ausgeschlossen sei etwa, dass verdeckte Ermittler intime Beziehungen zum Zweck der Informationsgewinnung eingingen.
"Ein Terrorismusverdacht ist keine Universalrechtfertigung"
Schon seit langem hatte die FFG die Verschärfung von Polizeigesetzen in nahezu allen Bundesländern kritisiert und dazu bereits mehrere Verfahren in Karlsruhe angestoßen. Sie misst der nun veröffentlichten Entscheidung der Verfassungsrichter weitreichende Bedeutung zu.
"Das Urteil ist ein Erfolg für die Freiheitsrechte und wird über Mecklenburg-Vorpommern hinaus Auswirkungen haben. Karlsruhe stellt klar: Tiefe Grundrechtseingriffe wie die Wohnraumüberwachung oder die Telekommunikationsüberwachung sind nur gerechtfertigt, wenn eine konkrete Gefahr vorliegt. Die Polizeirechtsverschärfungen in verschiedenen Bundesländern, die Überwachung weit im Vorfeld einer Gefahr zulassen, verletzen das Grundgesetz", so David Werdermann, Jurist und Verfahrenskoordinator.
Das Bundesverfassungsgericht setzte der Polizei rechtsstaatliche Grenzen, so Werdermann. Sie müsse auch dann die Grundrechte achten, wenn es um die Abwehr schwerer Straftaten gehe. Insbesondere müsse sie stets den Kernbereich privater Lebensgestaltung achten. Ein Terrorismusverdacht sei keine Universalrechtfertigung für tiefgreifende Grundrechtseingriffe.
Die meisten der beanstandeten Regelungen in Mecklenburg-Vorpommern bleiben dennoch vorläufig eingeschränkt in Kraft. Sie müssen bis Ende des Jahres überarbeitet werden.
pab/LTO-Redaktion
BVerfG zu ausgeweiteten Ermittlungsbefugnissen: . In: Legal Tribune Online, 01.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50949 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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