Jahrespressegespräch des BVerwG: "Wir haben zu viel Arbeit mit ers­t­in­stanz­li­chen Ver­fahren"

von Hasso Suliak

03.03.2021

BVerwG-Präsident Klaus Rennert sorgt sich um die künftige Aufgabe und Funktion des BVerwG: Das Leipziger Gericht wandele sich immer stärker vom Rechtsmittel- zum Tatsachengericht. Schuld sei der Gesetzgeber. 

In der Regel entscheidet das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) als Revisionsgericht nur über Rechts-, nicht über Tatsachenfragen. So waren von den 2020 im BVerwG eingegangen 1.160 Verfahren die überwiegende Anzahl Revisionen und Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision, wie das Gericht virtuell anlässlich der Vorstellung seines Jahresberichts am Mittwoch mitteilte. Nur in besonderen, gesetzlich vorgesehenen Fällen wird das BVerwG auch als Eingangsinstanz tätig. Dazu zählen neben Klagen gegen vom Bundesminister des Innern ausgesprochene Vereinsverbote vor allem komplexe Streitigkeiten über die Planung und den Ausbau von wichtigen Verkehrswegen (Autobahnen, Eisenbahntrassen, Wasserstraßen etc.). 2020 gehörte hierzu etwa das Mammutverfahren betreffend den Bau des umstrittenen Fehmarnbelttunnels. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Gericht 47 Eingänge derartiger erstinstanzlicher Verfahren.  

Doch obwohl die Verfahren zahlenmäßig einen verhältnismäßig geringen Anteil ausmachen, belasten sie das Gericht laut seinem Präsidenten Prof. Dr. Klaus Rennert enorm: Ihm zufolge binden sie derzeit ein Drittel der Arbeitskraft des Gerichts. Der BVerwG-Präsident zeigt sich deshalb äußerst besorgt: Noch sei das Verhältnis Zwei zu Eins in Bezug auf die Arbeitskraft im Verhältnis von Rechtsmittelgericht zu Tatsacheninstanz "erträglich", aber mehr – so Rennerts Appell an den Gesetzgeber – dürfe es nicht werden.  

Dabei habe der Gesetzgeber, so schilderte Rennert, zuletzt immer mehr die Tendenz gezeigt, in seinen Gesetzesvorhaben die erstinstanzliche Gerichtszuständigkeit von den Oberverwaltungsgerichten auf das BVerwG zu übertragen. Für den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger ist das problematisch, denn eine weitere Instanz gibt es dann nicht. Die Kehrseite: Die Verfahren werden auf diese Weise enorm beschleunigt.  

Rennert missfällt diese Entwicklung: "Der Gesetzgeber hat offenbar Freunde an unserer Arbeit, aber der Charakter des BVerwG als Rechtsmittelgericht verändert sich dadurch zu unserem Nachteil", beklagte er. Er befürchtet, dass auf das Leipziger Gericht künftig immer mehr erstinstanzliche Klagen zu Offshore-Windparks, neue Eisenbahn- und Wasserstraßenprojekte und Vorhaben, die sich aus dem Strukturstärkungsgesetz für die Kohleregionen ergeben, zukommen 

Bald auch erste Corona-Entscheidungen? 

Während ihm diese Entwicklung große Sorgen bereitet, zeigte sich der BVerwG-Präsident an anderer Stelle positiv gestimmt: Die Coronakrise, so Rennert, habe das BVerwG organisatorisch und personell gut bewältigt. Nur während des ersten Lockdowns im März und April 2020 habe das Gericht – auch aufgrund von vier Corona-Fällen – seine Arbeit komplett einstellen müssen und alle Türen geschlossen. Ansonsten habe das BVerwG den Rechtsprechungsbetrieb jedoch aufrechterhalten. "Wir sind zur Rechtschutzgewähr verpflichtet und zwar dauernd. Jedenfalls soweit es geht", sagte Rennert. 

Dass die Leipziger Richterinnen und Richter inhaltlich mit Rechtsfragen rund um die Coronakrise bisher nahezu verschont geblieben sind, liegt laut Rennert daran, dass es sich bei den meisten Verfahren um solche des einstweiligen Rechtsschutzes handele, die vor den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten entschieden würden. "Bislang haben wir noch nichts zu Corona gesagt", so Rennert. Ändern könnte sich dies jedoch laut Gerichtspräsident, wenn in Kürze auch die ersten Hauptsacheverfahren nach Leipzig gelangen. 

"Erhebliche Arbeitsbelastung" bei VG und OVG 

Auch wenn man im BVerwG derzeit selbst noch keine Corona-Verfahren bearbeiten muss, ist sich Deutschlands oberster Verwaltungsrichter der Belastung seiner Kolleginnen und Kollegen an den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten durchaus bewusst. Rennert belegte es mit Zahlen, die das BVerwG in den Bundesländern abgefragt hat: Danach hätten vor allem die Richterinnen und Richter in den bevölkerungsreichen Bundesländern NRW und Bayern viele "Corona-Verfahren" zu bearbeiten. In NRW seien die Verwaltungsgerichte mit über 600 Eilverfahren und mehr als 800 Hauptsacheverfahren konfrontiert gewesen, in Bayern waren es kaum weniger.  

Auch in Sachsen, so Rennert, hätten die drei Verwaltungsgerichte über 200 Corona-Verfahren abarbeiten müssen. In zwölf von 15 Oberveraltungsgerichten hätten die Kolleginnen und Kollegen erstinstanzlich 950 Normenkontroll-Anträge und rund 1.680 Eilanträge im Zusammenhang mit den Corona-Verordnungen auf dem Tisch gehabt. Eine "ganz erhebliche Arbeitslast", so Rennert. 

Spannende Verfahren vor der Entscheidung 

Viel Arbeit wird im Jahr 2021 auch auf die Richterinnen und Richter des BVerwG zukommen. Darunter findet sich auch das ein oder andere spannende, mitunter auch skurrile Verfahren: So wird es am 17. März in Leipzig darum gehen, ob auch bei einmaliger Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von weniger als 1,6 Promille eine MPU (medizinisch-psychologische Untersuchung) gefordert werden darf. Am 26. April geht es um die Akteneinsicht auf Grundlage des Umweltinformationsgesetzes UIG der Deutschen Umwelthilfe in wesentliche Akten zum Dieselskandal, über die das Bundesverkehrsministerium verfügt.  

Ebenfalls im April verhandeln die Leipziger Richterinnen und Richter über die Erstattung von Reisekosten eines Vorsitzenden OLG-Richters aus Bremen. Dieser hatte als Zuhörer an einer mündlichen Verhandlung des Europäischen Gerichtshofs teilgenommen. Die Präsidentin des OLG Bremen hatte das Gesuch des Richters, die Reisekosten als Dienstreise anzuerkennen, abgelehnt. Und in der zweiten Jahreshälfte wird das BVerwG die Frage entscheiden, ob einem 70jährigen Studenten trotz des fortgeschrittenen Alters ein Anspruch auf BAFÖG zusteht.  

"Braune Spuren" im BVerwG werden untersucht 

Das Jahr 2021 wird für das BVerwG auch zu einem historischen Meilenstein: Rennert kündigte gegenüber den Journalistinnen und Journalisten an, dass das Gericht seine personellen Verstrickungen mit der NS-Diktatur untersuchen werde.  

Gemeinsam mit der Universität Leipzig würden die Amtszeiten der Richterinnen und Richter in den Jahren zwischen 1953 und 1959 in den Blick genommen und diese, so Rennert, auf "braune Spuren" hin überprüft. "Wir wollen Kontinuitäten oder auch Diskontinuitäten der NS-Zeit im Gericht klären", so Rennert. 

Zitiervorschlag

Jahrespressegespräch des BVerwG: "Wir haben zu viel Arbeit mit erstinstanzlichen Verfahren" . In: Legal Tribune Online, 03.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44414/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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