Weihnachtsamnestie: Staatliche Willkür zum Fest

von Dr. Lorenz Leitmeier

23.12.2013

Die gnadenreiche Weihnachtszeit hat den Strafvollzug bereits erreicht: NRW entließ vorzeitig 748 Gefangene. Deutschlandweit begnadigen die Staatsanwaltschaften jährlich ab November mehrere hunderte Gefangene und ermöglichen ihnen so, Weihnachten in Freiheit zu verbringen. Lorenz Leitmeier erklärt dieses Relikt des Obrigkeitsstaats, das anerkennt, dass es nicht nur die Welt des Rechts gibt.

Florian B. und Daniel G. wurden wegen gemeinschaftlichen Diebstahls vom Amtsgericht Stuttgart jeweils zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt, Ende ihrer Haftzeit ist der 6. Januar 2014. Florian B. wird nach München verlegt, Daniel G. nach Stuttgart.

Am 6. Dezember 2013 beantragt Daniel G. bei der Justizvollzugsanstalt München, Florian B. besuchen zu dürfen, um in der Vorweihnachtszeit nicht so alleine zu sein. Daniel G. ist bereits Mitte November entlassen worden. Die in Baden-Württemberg übliche "Weihnachtsamnestie" kam ihm zugute.

Juristisch ist dies ein Gnadenerweis aufgrund ministerieller Ermächtigung: Die Landesjustizminister regeln in einer Verfügung die Voraussetzungen für die vorzeitige Entlassung von Gefangenen aus Anlass des Weihnachtsfests. Die Staatsanwaltschaften als Vollstreckungsbehörden werden so ermächtigt, Strafgefangene vorzeitig zu entlassen, deren eigentliches Haftende in etwa in die Weihnachtszeit fällt.

Formaljuristisch ist das keine generelle Amnestie, vielmehr wird bei jedem Gefangenen einzeln geprüft, ob die Voraussetzungen für einen Gnadenerweis erfüllt sind.

Christliche Nächstenliebe zwischen November und Januar

Der Strafvollzug ist seit der Föderalismusreform Ländersache, dementsprechend gibt es 16 Einzelregelungen zur Weihnachtsamnestie: Jedes Land regelt selbst, wann bei ihm die "Weihnachtszeit" beginnt und welche Voraussetzungen erfüllen muss, wer freigelassen werden will.

Einheitlich ist allein, dass es keine "Zwangsbeglückung" gibt: Jeder Gefangene muss zustimmen, keiner wird gegen seinen Willen entlassen. Welche Delikte eine Amnestie ausschließen (etwa Mord oder Sexualdelikte), wie gut sich der Gefangene "geführt" haben muss (keine Fluchtversuche oder neue Straftaten), ist jeweils unterschiedlich geregelt. Die Begnadigungszeiträume reichen dieses Jahr vom 7. November 2013 bis zum 10. Januar 2014. Es gab aber schon Fälle, da begann die Weihnachtszeit für Häftlinge bereits im Oktober – wenn der Spätsommer sich beeilen muss, nicht von Weihnachten überrascht zu werden. Etwa in Berlin 2004.

Als Grund für die Amnestie wird die "christliche Nächstenliebe" angeführt, sie sei ein Akt der "gepflegten Mitmenschlichkeit". Weniger metaphysisch sind die organisatorischen und finanziellen "Nebeneffekte", das heißt, die Entlastung der JVA-Mitarbeiter in den oft überbelegten Gefängnissen und die Ersparnis teurer Hafttage. Zudem wolle man den Gefangenen ermöglichen, noch vor Weihnachten Behördengänge zu erledigen, weil dies während der Feiertage schwierig sei.

Gnade – ein unverdientes und gesetzloses Wunder

Streng geben sich allein die Freistaaten Bayern und Sachsen, die generell keine Weihnachtsamnestie gewähren. Ihre Begründung: Die Dauer der Freiheitsstrafe sei von einem unabhängigen Gericht festgesetzt, der Zeitpunkt der Entlassung keine Frage der Jahreszeit und die Ungleichbehandlung gegenüber Häftlingen mit Entlasszeitpunkten im Sommer letztlich willkürlich.
Diese Gründe leuchten zunächst ein, gehen aber am Kern vorbei. Gnade ist nicht justiziabel, die juristischen Kategorien Gerechtigkeit und Gleichbehandlung können das Phänomen nicht erfassen. Gnade ist gerade die Abwesenheit von rechtlichen Maßstäben, sie ist „unverdient“. Der berühmte Rechtsphilosoph Gustav Radbruch nannte sie "das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt".

So wie die Arbeiter im Weinberg hinnehmen müssen, für einen Tag Arbeit den gleichen – und damit ungleichen und ungerechten – Lohn zu erhalten wie ihn andere für eine Stunde Arbeit bekommen, müssen die Nicht-Begnadeten die Begnadigung ihre Mithäftlinge hinnehmen.

Den Bayern reicht die Liebe

Gnade ist letztlich irrational, sie kann nicht verrechtlicht werden. Würde sie das, wäre sie aufgehoben.

Wer rechtlich gegen die Weihnachtsamnestie argumentiert, spricht sich gegen das Prinzip der Gnade aus. Und tatsächlich gibt es für eine Ablehnung gute Gründe: Der Gnadenakt ist ein Relikt des Obrigkeitsstaates. Indem der Staat Gnade gewährt, zeigt er willkürlich und überheblich seine Macht. Er wird unberechenbar und damit das Gegenteil eines Rechtsstaats.

Andererseits: Ist es wirklich nicht hinnehmbar, wenn ein paar Gefangene einige Tage früher entlassen werden?

Die Gnade anerkennt (in sehr engen Grenzen), dass es nicht nur die Welt des Rechts gibt, das "Fiat iustitia et pereat mundus" ("Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde"). So gibt das Grundgesetz in Art. 60 Abs. 2 dem Bundespräsidenten das Begnadigungsrecht.

Es gilt das Bonmot von Papst Anaklet II. (1090 - 1138): "Auf Erden herrscht die Liebe, im Himmel die Gnade, und nur in der Hölle gibt es Gerechtigkeit."

So gesehen, muss der Häftling Florian B. in München – dem freien Bürger Daniel G. im Besuchsraum gegenüber sitzend – mit der Pointe leben: Während fast alle Bundesländer einen Fetzen Himmel auf die Erde holen, reicht in Bayern die Liebe.

Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München.

Zitiervorschlag

Dr. Lorenz Leitmeier, Weihnachtsamnestie: Staatliche Willkür zum Fest . In: Legal Tribune Online, 23.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10414/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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