Gerichtsentscheidungen in der Pandemie: Haupt­sache Corona

Die Verwaltungsgerichte haben die Corona-Schutzmaßnahmen in Eilverfahren bislang überwiegend bestätigt. Nunmehr stehen Hauptsacheverfahren an. Wie die ausgehen könnten, erläutern Michael Winkelmüller und Christian Eckart.

Die Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Epidemie haben zu einer Welle von Gerichtsverfahren geführt. Bürger und Unternehmen suchen dabei Rechtsschutz gegen eine Vielzahl der verfügten Ge- und Verbote. Neben der Maskenpflicht und den Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum betrifft dies Betriebsschließungen ebenso wie beispielsweise die Quarantäne bei der (Wieder-)Einreise oder das Verbot des Verkaufs von Silvesterfeuerwerk. An den Entscheidungen besteht großes öffentliches Interesse, die Zeitungen sind voll davon.

Die Corona-Schutzmaßnahmen sind von den Verwaltungsgerichten insbesondere im Sommer, als die Infektionszahlen niedriger waren, zum Teil kritisiert worden. Sie wurden bisher aber weit überwiegend bestätigt. Die Entscheidungen ergingen wegen der kurzen Zeit in Eilverfahren. Dabei entscheiden die Gerichte regelmäßig auf der Grundlage einer summarischen Rechtsprüfung oder einer Interessenabwägung und Folgenabschätzung. 

In den Hauptsacheverfahren steht nun eine vollständige Prüfung an. Ist jetzt mit gänzlich anderen Entscheidungen zu rechnen? 

Kleiner Exkurs: Hauptsacheverfahren und Erledigung 

Zunächst ein Schritt zurück: Nicht in allen Fällen, in denen es Eilentscheidungen gab, wird es zu einem Urteil kommen. Viele Betroffene beschränken sich auf den Eilrechtsschutz, nur wenige klagen weiter. Und selbst dort, wo dies geschieht, erledigen sich zahlreiche Verfahren. Denn viele Maßnahmen aus der ersten Welle des Frühjahrs 2020 wurden letzten Sommer aufgehoben. Seit vergangenem November gelten zwar wieder verschärfte Regelungen, doch auch diese dürften im Laufe dieses Jahres gelockert werden. 

Bis zur mündlichen Verhandlung kann es jedoch gut ein Jahr dauern; bei Überlastung der Gerichte länger. Mit der Aufhebung tritt Erledigung ein.

Jedenfalls über die gravierendsten Grundrechtseinschränkungen dürfte nach den geltenden – und vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) jüngst unterstrichenen – Maßgaben gleichwohl auf Antrag noch zu entscheiden sein. Welche Maßnahmen dies sind, haben die Gerichte zu entscheiden. Ihnen kommt damit zunächst eine Art Filterfunktion zu.  

Werden die Entscheidungen in der Hauptsache anders ausfallen?

Ist diese Hürde genommen, kommt es zur vollständigen Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in der Hauptsache. Fragen zur Auslegung des in der Pandemie mehrfach reformierten IfSG sind nun abschließend zu klären. 

Dass die Gerichte dabei zu grundlegend anderen Einschätzungen gelangen werden als in den Eilverfahren, ist nicht anzunehmen. Denn wenngleich zahlreiche Entscheidungen in kurzer Zeit getroffen worden sind, haben die Gerichte zentrale Rechtsfragen inzwischen mehrfach und vertieft geprüft, ihre Argumentationen mitunter auch korrigiert und immer weiter verfeinert. 

Da das ganze Bundesgebiet betroffen ist, wurden Grundsatzfragen zudem von einer Vielzahl von Gerichten entschieden. Die vorliegenden Beschlüsse befassen sich im Ergebnis mit Kernfragen sehr ausführlich und in der Tiefe.  

In tatsächlicher Hinsicht sind ebenfalls wenig Überraschungen zu erwarten. Zwar wachsen die wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnisse über SARS-CoV-2 rasant an. Für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen kommt es aber auf die Ex-ante-Perspektive an. Anders ist eine effektive Gefahrenabwehr kaum möglich. 

Auf neue Erkenntnisse und Begebenheiten können Gesetz- und Verordnungsgeber mit kurzen Befristungen der Maßnahmen reagieren und so sicherstellen, dass diese regelmäßig überprüft werden - so wie es heute in § 28a Abs. 5 S. 1 IfSG ausdrücklich geregelt ist. 

Welche Rolle spielen neue wissenschaftliche Erkenntnisse für die rechtliche Bewertung?

In der Tagespresse werden neben den Entscheidungen auch die wissenschaftlichen Dispute der Epidemiologen breit diskutiert. Den Ausgang der Hauptsacheverfahren wird dies vermutlich nicht entscheidend beeinflussen. Neben der Bedeutung der Ex-ante-Perspektive haben die Gerichte den Weg aufgezeigt: Der Einschätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) kommt “nach dem in den einschlägigen Regelungen im Infektionsschutzgesetz zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers im Bereich des Infektionsschutzes besonderes Gewicht” zu (so BVerfG, Beschl. v. 10. April 2020 – BvG 28/20). 

Die Wissenschaft ist im Fluss. Die Gerichte können diese nicht ersetzen, sie müssen also nicht schlauer als die Epidemiologen sein – und muten dies dem Verordnungsgeber ebenfalls nicht zu. Klare Fehler dulden sie nicht. 

Es gilt aber: “Der Verordnungsgeber verletzt seinen Einschätzungsspielraum nicht dadurch, dass er bei mehreren vertretbaren Auffassungen einer den Vorzug gibt, solange er dabei nicht feststehende, hiermit nicht vereinbare Tatsachen ignoriert“ (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 22.12.2020 – 13 B 1670/20).

Die Krux mit dem Parlamentsvorbehalt

Im Fokus der Hauptsacheverfahren stehen voraussichtlich drei Gesichtspunkte: Der Parlamentsvorbehalt, die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Gleichheitssatzes. 

Nach der ersten Welle wurde breit diskutiert, ob eine Regulierung per Rechtsverordnung auf Dauer zulässig sein kann. Einige Gerichte und Stimmen in der Literatur meldeten Zweifel an. Der Gesetzgeber müsse intervenieren. Das hat er getan: Mit dem neuen § 28a IfSG wurden für den Fall und die Dauer einer vom Deutschen Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite klarstellend Maßnahmen in das IfSG aufgenommen, die per Rechtsverordnung als notwendige Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 geregelt werden können. 

Bereits drei Oberverwaltungsgerichte haben sich mit dieser Norm detaillierter auseinandergesetzt. Ergebnis: Dem Parlamentsvorbehalt sei spätestens damit voraussichtlich Genüge getan. Noch weitergehende Regelungen durch die Volksvertretungen zur Bekämpfung einer dynamischen Infektionslage, die raschen und effektiven Änderungen zugänglich sein muss, wären in der Tat kaum sinnvoll. 

Dass es dabei im Föderalismus zu Unterschieden kommt, ist weiterhin zu erwarten und auch mit Blick auf das jeweilige Infektionsgeschehen vor Ort angemessen, solange die Vorgaben in einem Land nicht die eines anderen konterkarieren. Dem wirken die Abstimmungen auf Regierungsebene zwischen den Ländern und dem Bund entgegen.

Und wie sieht es mit Verhältnismäßigkeit und Gleichheitsgerechtigkeit aus?

Neben der Verhältnismäßigkeit, die von den Gerichten bereits intensiv geprüft worden ist, sind es vielfach Fragen der Gleichheitsgerechtigkeit, die die Betroffenen berühren und vor allem in einem anderen Punkt diskutiert werden: Welche Kontakte in einer Gesellschaft am ehesten verzichtbar sind, ist von Wertungen abhängig. Dass z.B. Sportstätten oder bestimmte Betriebe geschlossen worden sind, während andere geöffnet blieben, ist erklärungsbedürftig. 

Gründe dafür gibt es aber: Schulen und Kitas wurden wegen der sozialen Folgen und des Bildungsauftrags so lange wie möglich offengehalten, Dienstleistungs- und Warenangebote der Grundversorgung werden anders behandelt als Freizeitangebote. Zu berücksichtigen sind zugleich die Beihilfen, die bei Betriebsschließungen gezahlt werden. 

In der Abwägung gibt es dabei nicht die einzig richtige Lösung. Daher sind etwa Vorschläge, etwa die vulnerablen Gruppen besonders zu schützen und dem Rest der Gesellschaft mehr Freiraum zu lassen, politisch ebenso legitim wie wichtig (und wurden in den Ländern auch unterschiedlich umgesetzt). 

Allerdings führen sie nicht zu einem anderen Ergebnis der erwarteten Hauptsacheentscheidungen: Gerade weil verschiedene Wege mit guten Gründen möglich sind, gehört die am Ende erforderliche Wertung zum Einschätzungsspielraum der Exekutive.

Die Autoren sind Rechtsanwälte bei Redeker Sellner Dahs und Herausgeber des Beck'schen Kommentars zum Infektionsschutzrecht. Die Sozietät vertritt verschiedene Bundesländer in den gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Corona-Schutzmaßnahmen. Die Autoren geben hier ausschließlich ihre eigenen Auffassungen wieder.

Zitiervorschlag

Gerichtsentscheidungen in der Pandemie: Hauptsache Corona . In: Legal Tribune Online, 14.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43990/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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