Es folgt die zweite Berechnungsstufe. Dazu werden die einzelnen Landesergebnisse addiert, woraus sich eine vorläufige Zusammensetzung des Bundestages ergibt, die zugleich für jede Partei die Mindestzahl der gewonnenen Sitze angibt. Diese durch Überhangmandate gegenüber der gesetzlichen Mindestmitgliederzahl vermehrte Sitzzahl - und damit auch die Gesamtzahl der Bundestagsmandate - kann sich noch weiter durch die Berechnung der Ausgleichsmandate erhöhen.
In diesem Rechenschritt (§ 6 Abs. 5, Abs. 6 S. 1 BWahlG) wird die Gesamtzahl der bundesweit abgegebenen Zweitstimmen durch die gesetzliche Sitzzahl des Bundestags dividiert. Die von jeder Partei gewonnenen Zweitstimmen werden durch diesen vorläufigen Bundesdivisor geteilt, woraus sich ein rein rechnerisches Zwischenergebnis für die auf die Partei entfallenden Mandate ergibt.
Dieses Zwischenergebnis wird aber meist für einige Parteien unterhalb der zuvor ermittelten Mindestsitzzahl liegen, und zwar wegen der Überhangmandate und wegen der unterschiedlichen Wahlbeteiligung in den Ländern. Deshalb wird die Sitzzahl des Bundestages solange erhöht, bis sich bei erneuter Teilung der bundesweiten Zweitstimmen durch die erhöhte Sitzzahl ein neuer Bundesdivisor ergibt, bei dessen Anwendung jede Partei mindestens ihre Mindestsitzzahl erhält. Die so gewonnene Sitzzahl ist dann endgültig, wobei die hinzugefügten Sitze die sogenannten Ausgleichsmandate bilden.
Größerer Bundestag auch wegen schwacher großer Parteien
Das Berechnungsverfahren führt dazu, dass hinter jedem verteilten Mandat eine identische Zahl von gewonnenen Zweitstimmen steht. Es werden also nicht nur Überhangmandate, sondern auch unter-schiedliche Wahlbeteiligungen in den Ländern ausgeglichen, und zwar durch Vergrößerung des Bundestages. Die Wahl nach Landeslisten ist also eine der Ursachen für dessen Aufblähung.
Eine wesentliche Rolle für die befürchtete starke Vergrößerung des Bundestages in der Zukunft spielen die Überhangmandate. Sie entstehen, weil eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr Sitze nach dem Proporz der Zweitstimmen zustehen. Direktmandate werden im Wahlkreis mit einfacher Mehrheit gewonnen, was dazu führt, dass fast alle Direktmandate entweder an die Union oder die SPD gehen. Nimmt der Zweitstimmenanteil dieser Parteien ab, wie dies nach gegenwärtigen Umfragen zu erwarten steht, steigt daher die Zahl der Überhangmandate - und damit wiederum die der Ausgleichsmandate. Die prognostizierte Vergrößerung des Bundestages ist also auch eine Folge der Schwäche der großen Parteien.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dem Parlamentswachstum Grenzen zu setzen. Man könnte etwa die Wahl nach Landeslisten durch die Wahl einheitlicher Bundeslisten ersetzen oder die Direktmandate entfallen lassen. Das wird aber politisch nicht durchsetzbar sein, denn die Gewichte zwischen den Parteien, aber auch innerhalb der Parteien zwischen Bundes-, Landes- und Kreisverbänden würden deutlich verschoben werden.
Demokratischer wäre es daher, schlicht die gesetzliche Mindestmitgliederzahl abzusenken und so das System der Mandatsberechnung von einem niedrigeren Ausgangsniveau starten zu lassen. Auf diese Weise ließe sich ohne Verzerrungen der Wahl verhindern, dass der Bundestag zu sehr anwächst. Bis zur kommenden Bundestagswahl wird es aber keine Wahlrechtsänderung mehr geben. Die Politik wird also voraussichtlich ihre Erfahrungen mit einem deutlich größeren Bundestag machen können.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner,
Lammert will weniger Sitze im Bundestag:
Die Grenzen des Wachstums
. In: Legal Tribune Online,
02.11.2016
, https://www.lto.de/persistent/a_id/21032/ (abgerufen am:
26.04.2024
)
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