Sein Präsident will die Maximalzahl der Mandate im Bundestag begrenzen. Gute Idee, denn der ist jetzt schon ziemlich groß, erklärt Sebastian Roßner mit einem Blick ins Ausland. Die Gründe liegen im überkomplexen deutschen Wahlrecht.
Bei den kommenden Bundestagswahlen könnte es zu einer deutlichen Vergrößerung des Bundestages kommen. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) wirbt dafür, den Bundestag nach den nächsten Wahlen nicht auf über 700 Abgeordnete anwachsen zu lassen, wie dies nach bestimmten Prognosen zu erwarten sei, sondern die Zahl der Mandatsträger auf etwa 630 zu begrenzen.
Dahinter steht eine plausible Überlegung: Zu viele Abgeordnete sind nämlich schlecht für die Funktion des Parlaments als politisches Kontroll- und Entscheidungsorgan. Der Bundestag muss sich mit verschiedensten Sachfragen befassen und die Probleme aus Sicht der diversen im Parlament vertretenen politischen Kräfte diskutieren. Er braucht daher Fachpolitiker für unterschiedliche Politikbereiche, und zwar jeweils für jede Fraktion. Die verschiedenen Vorschläge und Initiativen auf einzelnen Politikfelder müssen abgestimmt werden, damit in den Fraktionen wie im Gesamtparlament zusammenhängende Politikentwürfe entstehen, die dann der Öffentlichkeit präsentiert werden.
Das alles erfordert einen sehr hohen Aufwand an Kommunikation. Je zahlreicher die Abgeordneten sind, desto mehr steigt entweder der Kommunikationsaufwand oder es wächst die Zahl inaktiver Hinterbänkler an, die sich am Parlamentsleben nicht beteiligen. Offensichtlich gibt es aber auch die umgekehrte Gefahr eines zu kleinen Bundestags, in dem vor allem die kleineren Fraktionen nicht mehr genug parlamentarisches Personal haben, um ihre Aufgaben zu bewältigen. Wie groß muss das Parlament also sein, wie groß darf es sein?
Schon jetzt mehr Abgeordnete als das indische Parlament
Es kommt auf das richtige Maß an. Wo das Optimum liegt, lässt sich leider nicht genau bestimmen, auch weil Parlamente nicht nur im beschriebenen Sinne die Politik mitgestalten, sondern zudem das Handeln des Staates legitimieren sollen, indem sie das Volk repräsentieren.
Dadurch kommen viele weitere Faktoren ins Spiel, die Einfluss auf seinen Umfang haben. Wie groß ist die Bevölkerung, wie ausgeprägt sind die regionalen oder kulturellen Unterschiede innerhalb der Nation, die das Parlament abbilden soll?
Eine Rolle spielt auch, wie die Lasten der politischen Arbeit verteilt sind. In einem Bundesstaat etwa übernehmen die Parlamente der Teilstaaten viele Aufgaben und entlasten so das nationale Parlament. Deutschland leistet sich bekanntlich die recht üppige Anzahl von 16 Landesparlamenten, um dem Bedürfnis nach regionaler Differenzierung und der bundesstaatlichen Tradition Rechnung zu tragen. Dies spricht nicht dafür, dass wir einen besonders umfangreichen Bundestag benötigen.
Nachdenklich stimmt auch der Blick ins Ausland: Indien, die weltgrößte Demokratie mit deutlich mehr als einer Milliarde Einwohner, hat ein Unterhaus, dessen Funktionen denen des Bundestages ähneln. Seine Größe; 545 Abgeordnete. In derselben Größenordnung bewegen sich mit 577 bzw. 535 Mitgliedern auch die französische Assemblée Nationale und der Congress der Vereinigten Staaten. Im Vergleich erscheint die vorgeschlagene Begrenzung auf 630 Bundestagsabgeordnete bereits als großzügig.
Verteilung der Mandate auf Länderebene
Die vom Bundestagspräsidenten als bedrohliches Szenario eingeführte Zahl von möglicherweise mehr als 700 Abgeordneten nach den nächsten Wahlen scheint nicht unrealistisch. Der Grund dafür liegt im deutschen Wahlrecht, das bereits eine Mindestmitgliederzahl von 598 Abgeordneten vorsieht (§ 1 Abs. 1 S. 1 Bundeswahlgesetz (BWahlG), die dann durch Überhang- und Ausgleichsmandate noch deutlich vermehrt werden, so dass der gegenwärtige Bundestag bereits 630 Mitglieder zählt.
Gewählt wird nach Landeslisten, die von den Landesverbänden der Parteien aufgestellt werden. Jedem Land wird nach seinem Anteil an der Bundesbevölkerung ein Sitzkontingent zugeteilt (§ 6 Abs. 2 S. 1 BWahlG). Die auf jede Liste entfallenden Sitze werden dann in einer ersten, landesinternen Berechnungsstufe ermittelt, indem die Zahl der im Land abgegebenen Zweitstimmen durch die Zahl der auf das Land entfallenden Mandate dividiert wird. Durch den so ermittelten Divisor werden dann die für die jeweilige Landesliste abgegebenen Stimmen geteilt. Das Ergebnis ist eine erste vorläufige Sitzverteilung der im Land zu vergebenden Mandate auf die Landeslisten.
Gewinnt eine Partei über die Erststimmen mehr Wahlkreismandate, als ihr nach dem vorherigen Rechenschritt (Proporz der Zweitstimmen im Land) zustehen, entstehen Überhangmandate, welche die Partei zusätzlich zu ihrem Anteil an dem Sitzkontingent des Landes nach dem Zweitstimmenproporz erhält (§ 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG). Damit ist die erste Berechnungsstufe einer vorläufigen landesinternen Verteilung der Mandate abgeschlossen.
2/2: Ermittlung des Bundesdivisors
Es folgt die zweite Berechnungsstufe. Dazu werden die einzelnen Landesergebnisse addiert, woraus sich eine vorläufige Zusammensetzung des Bundestages ergibt, die zugleich für jede Partei die Mindestzahl der gewonnenen Sitze angibt. Diese durch Überhangmandate gegenüber der gesetzlichen Mindestmitgliederzahl vermehrte Sitzzahl - und damit auch die Gesamtzahl der Bundestagsmandate - kann sich noch weiter durch die Berechnung der Ausgleichsmandate erhöhen.
In diesem Rechenschritt (§ 6 Abs. 5, Abs. 6 S. 1 BWahlG) wird die Gesamtzahl der bundesweit abgegebenen Zweitstimmen durch die gesetzliche Sitzzahl des Bundestags dividiert. Die von jeder Partei gewonnenen Zweitstimmen werden durch diesen vorläufigen Bundesdivisor geteilt, woraus sich ein rein rechnerisches Zwischenergebnis für die auf die Partei entfallenden Mandate ergibt.
Dieses Zwischenergebnis wird aber meist für einige Parteien unterhalb der zuvor ermittelten Mindestsitzzahl liegen, und zwar wegen der Überhangmandate und wegen der unterschiedlichen Wahlbeteiligung in den Ländern. Deshalb wird die Sitzzahl des Bundestages solange erhöht, bis sich bei erneuter Teilung der bundesweiten Zweitstimmen durch die erhöhte Sitzzahl ein neuer Bundesdivisor ergibt, bei dessen Anwendung jede Partei mindestens ihre Mindestsitzzahl erhält. Die so gewonnene Sitzzahl ist dann endgültig, wobei die hinzugefügten Sitze die sogenannten Ausgleichsmandate bilden.
Größerer Bundestag auch wegen schwacher großer Parteien
Das Berechnungsverfahren führt dazu, dass hinter jedem verteilten Mandat eine identische Zahl von gewonnenen Zweitstimmen steht. Es werden also nicht nur Überhangmandate, sondern auch unter-schiedliche Wahlbeteiligungen in den Ländern ausgeglichen, und zwar durch Vergrößerung des Bundestages. Die Wahl nach Landeslisten ist also eine der Ursachen für dessen Aufblähung.
Eine wesentliche Rolle für die befürchtete starke Vergrößerung des Bundestages in der Zukunft spielen die Überhangmandate. Sie entstehen, weil eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr Sitze nach dem Proporz der Zweitstimmen zustehen. Direktmandate werden im Wahlkreis mit einfacher Mehrheit gewonnen, was dazu führt, dass fast alle Direktmandate entweder an die Union oder die SPD gehen. Nimmt der Zweitstimmenanteil dieser Parteien ab, wie dies nach gegenwärtigen Umfragen zu erwarten steht, steigt daher die Zahl der Überhangmandate - und damit wiederum die der Ausgleichsmandate. Die prognostizierte Vergrößerung des Bundestages ist also auch eine Folge der Schwäche der großen Parteien.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dem Parlamentswachstum Grenzen zu setzen. Man könnte etwa die Wahl nach Landeslisten durch die Wahl einheitlicher Bundeslisten ersetzen oder die Direktmandate entfallen lassen. Das wird aber politisch nicht durchsetzbar sein, denn die Gewichte zwischen den Parteien, aber auch innerhalb der Parteien zwischen Bundes-, Landes- und Kreisverbänden würden deutlich verschoben werden.
Bundestagspräsident Lammert schlägt daher vor, nur bis zu einer bestimmten Obergrenze Ausgleichsmandate hinzuzufügen. Eine solche Deckelung kann jedoch zu starken Verzerrungen und damit zu einem Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit führen. Politische Profiteure einer solchen Regelung wären nämlich die Parteien mit vielen Überhangmandaten, welche dann teilweise ohne Ausgleich blieben.
Demokratischer wäre es daher, schlicht die gesetzliche Mindestmitgliederzahl abzusenken und so das System der Mandatsberechnung von einem niedrigeren Ausgangsniveau starten zu lassen. Auf diese Weise ließe sich ohne Verzerrungen der Wahl verhindern, dass der Bundestag zu sehr anwächst. Bis zur kommenden Bundestagswahl wird es aber keine Wahlrechtsänderung mehr geben. Die Politik wird also voraussichtlich ihre Erfahrungen mit einem deutlich größeren Bundestag machen können.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Lammert will weniger Sitze im Bundestag: Die Grenzen des Wachstums . In: Legal Tribune Online, 02.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21032/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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