Journalisten vor Gericht (Teil 3): "Spiegel-Affäre", als es den guten alten Verrat noch gab

von Martin Rath

28.10.2012

2/2: "Mosaiktheorie" – Von Dächern pfeifende Spatzen unter Beschuss

Als Fazit stellt das Wunder-Gutachten fest, dass der "gesamte SPIEGEL-Artikel … somit für Nachrichtendienste des Ostblocks eine der wertvollsten Erkenntnisquellen dar[stellt], die ihnen ohne die geringste eigene Anstrengung gewissermaßen auf den Tisch gelegt wurde". Zur Anwendung kam damit die sogenannte "Mosaiktheorie" – das Gutachten zitiert hierzu den BGH-Senatspräsidenten Heinrich Jagusch: "Eine solche Zusammenstellung umfassender, an sich offener und dem Fachmann stückweise zugänglicher Einzeltatsachen, ist eine von der Summe der Einzelheiten verschiedene, nicht jedermann zugängliche, neue und zum Wohl der Bundesrepublik Deutschland geheimhaltungsbedürftige Erkenntnis jedenfalls dann, wenn sie dem Gegner einen gewissen Einblick oder Überblick bietet und weitere Schlüsse auf Tatsachen erlaubt, die geheim bleiben müssen."

Als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Teilurteil vom 5. August 1966 (Az. 1 BvR 586/62 u.a.) die Verfassungsbeschwerden von Augstein gegen die diversen Eingriffe im Zuge der "Spiegel-Affäre" abwies, äußerte es deutliche Zweifel daran, dass es der "freien Presse" unter dem GG verboten sei, aus den Mosaikbausteinen von nicht mehr geheimen Informationen ein "neues" Staatsgeheimnis zusammenzupuzzlen. Das vertrage sich nicht mit der Rolle der Presse unter dem Grundgesetz.

Das war natürlich ein gewaltiger Fortschritt, verglichen mit der regierungshörigen Rechtsprechung, die das Reichsgericht unter Geltung der Verfassung von 1919 produziert hatte – Carl von Ossietzky war 1932 wegen publizistischen Landesverrats verurteilt worden, obwohl der Gegenstand der Publikation schon im Reichstag beraten worden war.

"Spiegel"-Affäre, ein (fast) opferloser Vorgang

Soweit erkennbar, hat fast allen Beteiligten der "Spiegel-Affäre" der Vorgang nur genutzt. Der 1977 von RAF-Terroristen ermordete Staatsanwalt Siegfried Buback, der das Wunder-Gutachten angefordert und die Durchsuchung geleitet hatte, sollte 1974 zum Generalbundesanwalt aufsteigen. Franz Josef Strauß konnte anderthalb Staatsaffären später zwar kaum noch Kanzler werden, hatte als – freundlich formuliert: konservativer – Politiker ein unbezahlbares Image, für das farblose Politiker heutzutage wohl morden müssten.

Dem "Spiegel" brachte die Affäre den Ruf ein, im Zweifel ein linksliberales Blatt zu sein. Sie machte vergessen, in welchem Ausmaß Rudolf Augstein nach 1947 auf ehemalige Gestapo-, SS- und NS-Propaganda-Mitarbeiter zurückgegriffen hatte – und das teils aus einer negativen Haltung gegenüber Adenauer und der Westbindung gegenüber, die heute gerne vergessen wird.

Einen Verlierer hatte die Affäre jedoch, ausgerechnet einen Senatspräsidenten des BGH. Heinrich Jagusch (1908-1987) verglich in einem Artikel unter dem Pseudonym "Judex" die "Spiegel-Affäre" mit dem Ossietzky-Prozess: "Er sträubte sich dagegen, daß ein Journalist, der Staatsgeheimnisse öffentlich kritisierte, unter derselben Strafandrohung stand wie ein gedungener Spion", heißt es in seinem Nachruf im "Spiegel". Jagusch, selbst Vorsitzender eines Staatschutzsenates beklagte unter anderem, dass die deutschen Richter, "kaum dem Zustand des Selbstverständnisses als 'richterliche Beamte' entwachsen, … ein emsiges, sich fleißig hochdienendes gesetzestreues Heer [bildeten], dem man seinen Urberuf nicht ansieht, weil es sich verbandsoffiziell als Staatsanwalts-Zwilling versteht, und das sein Bildungsmanko weniger dem eigenen Erkenntnisdrang anheimgibt als dem Hilferuf nach staatlich bezahlten Akademiekursen…"

Heute sind wir nicht mehr so ehrpusselig

Die Frage des BGH-Präsidenten, ob er "Judex" sei, verneinte Jagusch – "überrumpelt" wie es heißt. Das führte zu einem Disziplinarverfahren, das erst nach seiner vorzeitigen Pensionierung eingestellt wurde.

Heute würden sich Jagusch und sein BGH-Präsident wohl vor dem VG Karlsruhe wiederfinden. Selbst Politiker, die unter Cäsarenwahn leiden – nicht auszuschließen, dass es sie immer noch gibt –, kämen kaum auf den Gedanken, wegen eines Verkehrspolizisten eine mehrjährige Prozessaffäre zu riskieren. Wird schließlich ein amtierender Minister der Republik denunziert, in seiner Jugend als Steine werfender Terroristenfreund tätig gewesen zu sein, ist seine – an Public-Relations-Pflege geschulte - Methode: Schweigen, bloß nicht den Angreifer durch einen Beleidigungsprozess aufwerten.

Wenn heute Geheimdienste oder Staatsschutzbehörden öffentlich wegen Geheimnisverrats ermitteln lassen, zeigt das nur, dass sie diesen Dreh noch nicht heraus haben: Nirgendwo sind Geheimnisse so gut aufgehoben wie im Schweigen einer im Zweifel desinteressierten Öffentlichkeit.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Journalisten vor Gericht (Teil 3): "Spiegel-Affäre", als es den guten alten Verrat noch gab . In: Legal Tribune Online, 28.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7405/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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