Mit der Durchsuchung der "Spiegel"-Redaktion, die am Abend des 26. Oktober 1962 begann und sich über Wochen hinzog, die Verhaftung Augsteins wegen Landesverrats, schließlich das juristische Nachspiel bis zum Bundesverfassungsgericht – die Affäre gilt als Beginn einer neuen Epoche der freien Presse in Deutschland. Sympathie wecken nur ein gefallener BGH-Richter und ein strenger Verkehrspolizist, findet Martin Rath.
Am Morgen des 29. April 1958 bog der BMW des Bundesministers der Verteidigung in die Einfahrt zum Palais Schaumburg, dem Sitz des Bundeskanzlers in Bonn, obwohl der Verkehrspolizist Siegfried Hahlbohm die – ohnehin verbotene – Durchfahrt nicht freigegeben hatte. Am frühen Nachmittag ließ der Minister sein Fahrzeug neben dem Polizisten halten, examinierte Hahlbohm, ob er eine Anzeige gegen den Chauffeur beabsichtige, gab an, dass der Fahrer auf Weisung des Ministers die Durchfahrt erzwungen habe und drohte damit, den Beamten von der prominenten Verkehrskreuzung vor dem Sitz des Bundeskanzlers entfernen zu lassen.
Im September 1958 berichtete der "Spiegel" davon, dass der Bonner Staatsanwaltschaft eine Anzahl von Vorstrafen des Ministerfahrers bekannt seien und der Bundesverteidigungsminister, der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß (1915-1988) gegen den Polizisten Strafanzeige wegen Gefährdung des Straßenverkehrs gestellt habe.
1950er-, 1960er-Jahre: Verrat an jeder Straßenecke
Vor Gericht zu verantworten hatte sich der Verkehrspolizist im Herbst 1962 aber nicht wegen eines angeblichen Verkehrsdelikts. Hahlbohm wurde unter anderem Geheimnisverrat nach § 353 b Strafgesetzbuch (StGB) vorgeworfen: Er habe dem Hamburger Nachrichtenmagazin die Vorstrafen des Strauß-Chauffeurs bekannt gemacht und dies unter Eid geleugnet.
Auch im Vorfeld der "Spiegel-Affäre" taucht der Fall Hahlbohm wieder auf. Angesichts der seinerzeit bekannten Schwäche der Bundeswehr im Bereich konventioneller Rüstung – die unter dubiosen Umständen angeschafften Abfangjäger des Typs "Starfighter" sollten bis 1984 über 100 Piloten das Leben kosten, die Mannschaftsstärke der Bundeswehrdivisionen blieb unter Niveau – griff das Magazin den Verteidigungsminister am 5. April 1961 frontal an.
Unter dem Titel "Der Endkampf" wurden Strauß – der als Nachfolger des greisen Bundeskanzlers Konrad Adenauer (1876-1967) im Gespräch war – gravierende Charaktermängel vorgeworfen: Sich gegenüber dem Bonner Verkehrspolizisten aufgespielt zu haben, galt dem Magazin als ähnlich bösartig wie Strauß‘ Bemühen, die konventionellen Schwächen der Bundeswehr durch Atomsprengkörper einer "nuklearen Artillerie" ausgleichen zu wollen.
Konventionelle Bundeswehrschwäche und Atomrüstungsphantasien
Am 10. Oktober 1962 brachte der "Spiegel" unter dem Titel "Bedingt abwehrbereit" einen relativ detaillierten Artikel über die Schwächen der Bundeswehr im Bereich der konventionellen Rüstung und Logistik. Gemessen am moralischen Großangriff auf Franz Josef Strauß' Charakterfehler und Atomkriegsphantasien anderthalb Jahre zuvor mochte dieser Artikel der Redaktion harmlos erscheinen.
Das militärische Planspiel "Fallex 62" hatte namentlich extreme Schwächen des Sanitätswesens herausgestellt. Der deutschen Truppe war sozusagen "NATO-amtlich" attestiert worden, nur "bedingt abwehrbereit" zu sein, statt "voll angriffstauglich" – ein Zustand, den das Grundgesetz (GG) für die deutsche Truppe eigentlich wohl auch nicht vorsieht.
Die Regierung Adenauer hatte bereits in der Affäre Schmeißer/Blankenhorn gezeigt, dass sie ihre Interessen gegenüber dem Nachrichtenmagazin gegebenenfalls mit juristischen Mitteln durchsetzen würde. So wurden nun nach dem Artikel vom 10. Oktober 1962 nicht – wie es zu erwarten wäre – primär interne Ermittlungen innerhalb des Verteidigungsministeriums aufgenommen, um zu klären, wie die vertraulichen Informationen über das desaströse Planspiel "Fallex 62" nach außen gedrungen waren.
Ausufernder Durchsuchungsbeschluss, von der U-Haft ganz zu schweigen
Welches Bild die Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft gegen den "Spiegel" nun abgaben, ist sehr präsent – der zweiten Geburt des Nachrichtenmagazins als ein "Sturmgeschütz der Demokratie" wird schließlich im Zehnjahresturnus gedacht. Neben dem Haftbefehl gegen Rudolf Augstein und den verantwortlichen Redakteur Conrad Ahlers wurde am 23. Oktober 1962 auch der folgende Durchsuchungsbefehl gegen Augstein erlassen:
"In dem Ermittlungsverfahren gegen den Verlagsleiter Rudolf Augstein, Hamburg 1, Speersort 1, wegen Verdachts des Landesverrats wird auf Antrag des Generalbundesanwalts beim BGH die Durchsuchung der Person, der Wohnung und der sonstigen Räume des Beschuldigten sowie sämtlicher Geschäftsräume in Hamburg und Bonn und seines Archivs und die Beschlagnahme der bei dieser Durchsuchung vorgefundenen Beweismittel und Gegenstände, die der Einziehung unterliegen, angeordnet."
Der weite Umfang des Durchsuchungsbefehls auf alles, was sich irgendwo in der Redaktion befinden mochte, führte dazu, dass die Redaktionsräume über vier Wochen in Beschlag genommen wurden, die Produktion weiterer Hefte erschwert und nur durch die Hilfe anderer Hamburger Medienunternehmen möglich blieb. Der Augstein-Biograf Ulrich Greiwe ("Augstein. Ein gewisses Doppelleben") sieht darin – wie viele linksliberale Beobachter des Jahres 1962 – einen "Vernichtungsangriff" auf das kritische Magazin.
Wunder-Gutachten
Indes finden sich auch Hinweise darauf, dass die Juristen im beschaulichen Karlsruhe keine Vorstellung von den Produktionsbedingungen, beispielsweise vom Umfang eines Medienarchivs hatten. Erwartet wurde wohl, eine Geheimakte mit den einschlägigen brisanten Informationen bei Augsteins unterm Sofa zu finden. Es mag auch sein, dass es einem schlechten Archivwesen im Verteidigungsministerium zu verdanken war, dass ein Gutachten des Ministerialbeamten Heinrich Wunder die Frage des Generalbundesanwalts bejahte, ob der "Spiegel"-Artikel überhaupt einen Geheimnisverrat beinhalte: Aus der Sicht der professionell arbeitenden Journalisten hatte der Artikel ja nur geringen Neuigkeitswert – war "langweilig" – denn die mangelnde Kampftauglichkeit der Bundeswehr war in vielen Details bereits publik.
Fehlendes Wissen darüber, was an vermeintlichen "Geheimnissen" bereits veröffentlicht war, erlaubte dem Gutachter Dr. Wunder sein harsches Verdikt. So heißt es beispielsweise, die publik gemachte Entscheidung der US-Politik, deutsche Verbände nicht mit dem "Atomgranatenwerfer Davy Crockett" auszustatten, decke "der Sowjetunion eindeutig auf, daß sie für absehbare Zeit mit dieser Waffe nur im Abschnitt von US-Verbänden zu rechnen braucht."
2/2: "Mosaiktheorie" – Von Dächern pfeifende Spatzen unter Beschuss
Als Fazit stellt das Wunder-Gutachten fest, dass der "gesamte SPIEGEL-Artikel … somit für Nachrichtendienste des Ostblocks eine der wertvollsten Erkenntnisquellen dar[stellt], die ihnen ohne die geringste eigene Anstrengung gewissermaßen auf den Tisch gelegt wurde". Zur Anwendung kam damit die sogenannte "Mosaiktheorie" – das Gutachten zitiert hierzu den BGH-Senatspräsidenten Heinrich Jagusch: "Eine solche Zusammenstellung umfassender, an sich offener und dem Fachmann stückweise zugänglicher Einzeltatsachen, ist eine von der Summe der Einzelheiten verschiedene, nicht jedermann zugängliche, neue und zum Wohl der Bundesrepublik Deutschland geheimhaltungsbedürftige Erkenntnis jedenfalls dann, wenn sie dem Gegner einen gewissen Einblick oder Überblick bietet und weitere Schlüsse auf Tatsachen erlaubt, die geheim bleiben müssen."
Als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Teilurteil vom 5. August 1966 (Az. 1 BvR 586/62 u.a.) die Verfassungsbeschwerden von Augstein gegen die diversen Eingriffe im Zuge der "Spiegel-Affäre" abwies, äußerte es deutliche Zweifel daran, dass es der "freien Presse" unter dem GG verboten sei, aus den Mosaikbausteinen von nicht mehr geheimen Informationen ein "neues" Staatsgeheimnis zusammenzupuzzlen. Das vertrage sich nicht mit der Rolle der Presse unter dem Grundgesetz.
Das war natürlich ein gewaltiger Fortschritt, verglichen mit der regierungshörigen Rechtsprechung, die das Reichsgericht unter Geltung der Verfassung von 1919 produziert hatte – Carl von Ossietzky war 1932 wegen publizistischen Landesverrats verurteilt worden, obwohl der Gegenstand der Publikation schon im Reichstag beraten worden war.
"Spiegel"-Affäre, ein (fast) opferloser Vorgang
Soweit erkennbar, hat fast allen Beteiligten der "Spiegel-Affäre" der Vorgang nur genutzt. Der 1977 von RAF-Terroristen ermordete Staatsanwalt Siegfried Buback, der das Wunder-Gutachten angefordert und die Durchsuchung geleitet hatte, sollte 1974 zum Generalbundesanwalt aufsteigen. Franz Josef Strauß konnte anderthalb Staatsaffären später zwar kaum noch Kanzler werden, hatte als – freundlich formuliert: konservativer – Politiker ein unbezahlbares Image, für das farblose Politiker heutzutage wohl morden müssten.
Dem "Spiegel" brachte die Affäre den Ruf ein, im Zweifel ein linksliberales Blatt zu sein. Sie machte vergessen, in welchem Ausmaß Rudolf Augstein nach 1947 auf ehemalige Gestapo-, SS- und NS-Propaganda-Mitarbeiter zurückgegriffen hatte – und das teils aus einer negativen Haltung gegenüber Adenauer und der Westbindung gegenüber, die heute gerne vergessen wird.
Einen Verlierer hatte die Affäre jedoch, ausgerechnet einen Senatspräsidenten des BGH. Heinrich Jagusch (1908-1987) verglich in einem Artikel unter dem Pseudonym "Judex" die "Spiegel-Affäre" mit dem Ossietzky-Prozess: "Er sträubte sich dagegen, daß ein Journalist, der Staatsgeheimnisse öffentlich kritisierte, unter derselben Strafandrohung stand wie ein gedungener Spion", heißt es in seinem Nachruf im "Spiegel". Jagusch, selbst Vorsitzender eines Staatschutzsenates beklagte unter anderem, dass die deutschen Richter, "kaum dem Zustand des Selbstverständnisses als 'richterliche Beamte' entwachsen, … ein emsiges, sich fleißig hochdienendes gesetzestreues Heer [bildeten], dem man seinen Urberuf nicht ansieht, weil es sich verbandsoffiziell als Staatsanwalts-Zwilling versteht, und das sein Bildungsmanko weniger dem eigenen Erkenntnisdrang anheimgibt als dem Hilferuf nach staatlich bezahlten Akademiekursen…"
Heute sind wir nicht mehr so ehrpusselig
Die Frage des BGH-Präsidenten, ob er "Judex" sei, verneinte Jagusch – "überrumpelt" wie es heißt. Das führte zu einem Disziplinarverfahren, das erst nach seiner vorzeitigen Pensionierung eingestellt wurde.
Heute würden sich Jagusch und sein BGH-Präsident wohl vor dem VG Karlsruhe wiederfinden. Selbst Politiker, die unter Cäsarenwahn leiden – nicht auszuschließen, dass es sie immer noch gibt –, kämen kaum auf den Gedanken, wegen eines Verkehrspolizisten eine mehrjährige Prozessaffäre zu riskieren. Wird schließlich ein amtierender Minister der Republik denunziert, in seiner Jugend als Steine werfender Terroristenfreund tätig gewesen zu sein, ist seine – an Public-Relations-Pflege geschulte - Methode: Schweigen, bloß nicht den Angreifer durch einen Beleidigungsprozess aufwerten.
Wenn heute Geheimdienste oder Staatsschutzbehörden öffentlich wegen Geheimnisverrats ermitteln lassen, zeigt das nur, dass sie diesen Dreh noch nicht heraus haben: Nirgendwo sind Geheimnisse so gut aufgehoben wie im Schweigen einer im Zweifel desinteressierten Öffentlichkeit.
Martin Rath, Journalisten vor Gericht (Teil 3): "Spiegel-Affäre", als es den guten alten Verrat noch gab . In: Legal Tribune Online, 28.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7405/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag