Juristen im Sommer 1913: Hitler mit "ie"

von Martin Rath

18.08.2013

2/2: Erste systematische Schrift zum Luftfahrtrecht

Neben dogmatischen Grundlagen des Immaterialgüterrechts befasste sich Kohler etwa mit der Straftätertypologie im Werk von William Shakespeare, schrieb umfängliche rechtsethnologische Werke und war fast manisch hinter jedem aktuellen Lebenssachverhalt her, dem er als Erster ein rechtsdogmatisches Korsett verpassen konnte.

Gefördert durch die Stiftung des Kaiserlichen Aero-Clubs veröffentlichte Kohler 1912 beispielsweise eine erste systematische Schrift zum "Luftfahrtrecht", in der er etwa die frische Frage nach der Reichweite des Grundeigentums stellt: Taugt das Schweizerische Zivilgesetzbuch, das in Art. 667 das Grundeigentum auch in den Luftraum erstreckt, für die moderne Technik? Aus dem britischen Jagdrecht und den englischen Präjudizien zum Anbringen von Telegraphendrähten zieht Kohler den Stoff zum Luftraum zusammen. Bald wird die Frage aktuell sein: Wie steht es um neutralen Luftraum im Kriegsfall?

Seinem energischen Zugriff auf die Lebenswirklichkeit und der rechtsvergleichenden Leidenschaft hatte Kohler, der sich formal nie habilitierte, seinen Ruf zu verdanken – seine frühe Schrift zum Patentrecht ebnete den akademischen Weg über die Universität Würzburg ins intellektuelle Zentrum der deutschen Rechtswissenschaft nach Berlin.

Die rechtliche Natur der Kurtaxe

Als technikaffiner Jurist war Kohler, wie sein Biograf Günter Spendel in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung (Nr. 113, 434-451) berichtet, viel mit dem Automobil unterwegs – damals Höllenmaschinen, die den ersten Flugzeugen kaum nachstanden.

Gut möglich, dass Kohler lieber in rasender Geschwindigkeit durch Deutschland tourte, statt mit der Berliner Oberschicht in Heiligendamm baden zu gehen, immerhin durften Automobile laut "Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" vom 3. Februar 1910 innerhalb geschlossener Ortschaften eine Fahrtgeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern erreichen, soweit sie mit Gummirädern ausgestattet waren sogar 16 Stundenkilometern. Damals war das noch den härtesten Workaholics genug.

Dass Kohler auch die Kur- und Seebäder kannte, belegt seine Schrift "Die Kurtaxe. Betrachtungen über ihre rechtliche Natur" von 1902. Bevor sich der eingangs erwähnte Schnulzenpoet Rainer Maria Rilke von seiner Freundin Helene von Nostiz zum Spaziergang entführen ließ, musste er ihr mit vorzeitiger Abreise drohen. Die entrichtete Kurtaxe wäre damit verlorengegangen. Das Problem, welche Rechtsnatur die "Kurtaxe" hat, ob sie öffentlich-rechtlich als Steuer oder privatrechtlich als Vorleistung auf die Nutzung der Kureinrichtungen zu verstehen ist, ist Gegenstand von Kohlers Schrift – ein rechtsvergleichendes "Es kommt darauf an" seine Antwort.

Das Brett des Karneades

1914/15 ging Josef Kohler aber sicher baden – mit dem "Brett des Karneades". Juristische Erstsemester kennen das Problem aus dem Strafrecht: Zwei Schiffbrüchige klammern sich an eine Planke, die nur einem von ihnen das Überleben sichert. Im "Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie" (Bd. 8, S. 411-451) deutete Kohler seine Lösung für das Problem, ob ein Schiffbrüchiger den anderen in den Tod schicken dürfe mit der Frage an: "Sollte man nicht einen Goethe retten dürfen, wenn sein Leben mit dem eines Indianers in Kollision tritt?"

Sein Aufsatz über "Das Notrecht" sollte erkennbar den deutschen Einmarsch ins neutrale Belgien akademisch rechtfertigen. Darum lag es nah, die "Indianer"-Stelle als eine Art Notstandsprivileg des rassisch oder moralisch Höherwertigen zu verstehen. Doch vielleicht greift das zu kurz. 1904 war Kohler zur Verleihung einer Ehrendoktorwürde nach Chicago gereist, zehn Tage über den Atlantik. In seinem autobiografisch gefärbten Roman, "Eine Faustnatur" (1908), repräsentiert ein "Wolfgang" ein Alter Ego Kohlers.

Sollte sich der beinah größte deutsche Jurist aller Zeiten selbst als Schiffbrüchiger ("Wolfgang") an der Planke in eine "Karneades"-Situation hineinphantasiert haben, könnte man wenigstens küchenpsychologisch erklären, warum ein so kluger und international anerkannter Jurist 1914 in kruden Nationalismus verfiel.

Ganz ungerechtfertigt ist das Mittel nicht. Denn Küchenpsychologie war natürlich auch eines der Themen Josef Kohlers, nur firmierte sie bei ihm noch als "Beweiserhebung und Seelenlehre", später umbenannt in "forensische Psychologie/Psychiatrie".

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristen im Sommer 1913: Hitler mit "ie" . In: Legal Tribune Online, 18.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9375/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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