Es ist August. Wer kann, ist verreist. Das war 1913 nicht anders. Baden ging sicherlich auch der Berliner Juraprofessor Josef Kohler bisweilen, wo er sich damals aufhielt blieb allerdings ungeklärt. Überliefert wurden dagegen seine rechtliche Abhandlung über die Kurtaxe und sein Lösungsvorschlag zum Brett des Karneades. Ein kurzer Ausflug in die Sommer-Frische des Jahres 1913 von Martin Rath.
Aus Badeorten am Meer berichtet Florian Illies für das Kapitel "August 1913" in seinem Buch "1913. Der Sommer des Jahrhunderts", in dem er vorwiegend den kulturellen und politischen Schmäh des für lange Zeit letzten europäischen Friedensjahrs dokumentiert.
Im Ostseebadeort Heiligendamm, damals Sommer-Versammlungsort der intellektuellen und ökonomischen Berliner Oberschicht, so etwas gab es ja einst, jammerte der erstaunlich populäre Dichter Rainer Maria Rilke seiner Freundin Helene von Nostiz die Ohren voll, ließ sich dann von ihr durchs Gebüsch zerren und schrieb hiernach Gedichte. Eine Berliner Salondame trifft auf den Harald Glööckler der deutschen Lyrik.
Bemerkenswerter: In der Stadt Detroit, die im Juli 2013 Konkurs anmeldete, lief im August 1913 die Fließbandproduktion von Automobilen an. Das österreich-ungarische Militärwesen gab am 22. August 1913 die Suchmeldung nach einem "Hietler, Adolf" heraus, dem es wegen Wehrdienstflucht habhaft werden wollte.
Kaiser unterzeichnet Gesetze auf hoher See
Um ein "e" im Nachnamen ärmer wurde der in Bayern untergetauchte Militärdienstflüchtling 1932 im Freistaat Braunschweig eingebürgert, wo man ihm einen Beamtenposten verschaffte. Dass mit der Verleihung des Beamtenstatus die Einbürgerung verbunden war, regelte das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, das Kaiser Wilhelm II. am 22. Juli 1913 im norwegischen Balholm an Bord seiner Yacht "Hohenzollern" unterzeichnete. Am 1. Januar 1914 in Kraft getreten, sortiert Illies es übrigens zu den Novitäten im August 1913 ein.
Vom Kaiser, der sich Jahre zuvor mit blutrünstiger Rhetorik – beispielsweise der "Hunnenrede" anlässlich der deutschen Intervention in den chinesischen Boxeraufstand – zum Kasper gemacht hatte, war 1913 wenig zu hören. Fünf Jahre zuvor, empörte die sogenannte "Daily-Telegraph-Affäre" die politische Öffentlichkeit – nach heutigem Schulbuchwissen: Majestät äußerten sich leicht größenwahnsinnig in der britischen Boulevardpresse, was ja nie ohne Folgen bleibt.
Im juristischen Schrifttum werden die Feinheiten klar: Die britischen Redakteure hatten die undiplomatischen Äußerungen Wilhelms nach Berlin zur Freigabe geschickt. Weil seine Vorgesetzten angeblich in Urlaub gewesen waren, zeichnete ein nachrangiger Beamter die Äußerungen des Staatsoberhaupts gegen. In der Schriftenreihe "Das Kulturparlament" dokumentieren Vertreter aller politischen Kräfte ihr Missfallen über die unzureichende Kontrolle seiner Majestät durch die Exekutive. Der beinah größte Jurist Deutschlands, Josef Kohler, erklärt noch vorsichtig das positive Verfassungsrecht, der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (1850-1932) seziert schon trickreicher die Eigenmacht des britischen Königs Georg III. (1738-1820) und meint damit Wilhelm II., sogar ein Führer der deutschen Konservativen hält seine Kritik am Kaiser kaum zurück.
Der deutsche Spitzenjurist seiner Zeit, ein boshafter Sozialisten-Vordenker und die parlamentarische Vertretung des Konservatismus schreiben einen Sammelband, um ein staatspolitisches Grundproblem zu lösen. Der Erste Weltkrieg beendete solch interessante Kooperationen ja leider bald – 1913 immerhin hielt der Kaiser einigermaßen Funkstille.
80 juristische Buchtitel
Baden ging der Berliner Juraprofessor Josef Kohler (1849-1919) wohl bisweilen, aber wo er sich im August 1913 aufhielt, dieser vielleicht produktivste deutsche Jurist aller Zeiten, war nicht zu ermitteln. Urlaub hatte er stets verdient. Die von seinem Sohn Arthur besorgte Bibliographie weist 2.500 Titel aus, darunter 100 von Josef Kohler verfasste Bücher, nicht weniger 80 juristische Buchtitel. Heutige Juraprofessoren müssten für diese Leistung wohl einige Assistenten im Institutskeller einsperren und mit Lebkuchen füttern, Kohler scheint es allein geschafft zu haben.
Produktivität von Großjuristen geht nicht ohne Qualitätseinbußen vonstatten. Fortbildungshungrige Amts- und Landgerichtsräte werden sich im Sommer 1913 Kohlers frisch erschienene "Moderne Rechtsprobleme" in die Gerichtsferien mitgenommen haben. Dass Juristen schon einmal ein paar Jahrhunderte über den selbsterfundenen Problemen ihrer Dogmatik grübeln, ist kein Wunder.
Das kleine Wunder bei Kohler: In seinem kleinen Bändchen von 1913 laden die gleichen juristisch-allgemeinmenschlichen Probleme zum Denken ein, die heute auch wieder in Mode sind. Ob der Mensch einen freien Willen hat und was das fürs Strafrecht bedeutet, dem ging Kohler ganz ohne Computertomographie nach. Seine Lösung, dass der strafmündige Mensch die Verantwortung habe, "an dem eigenen Charakter zu arbeiten" und sich mit naturwissenschaftlichen Determinismen nicht weiter zu entschuldigen, ähnelt heutigem Juristendenken zu Willensfreiheit und Schuld.
2/2: Erste systematische Schrift zum Luftfahrtrecht
Neben dogmatischen Grundlagen des Immaterialgüterrechts befasste sich Kohler etwa mit der Straftätertypologie im Werk von William Shakespeare, schrieb umfängliche rechtsethnologische Werke und war fast manisch hinter jedem aktuellen Lebenssachverhalt her, dem er als Erster ein rechtsdogmatisches Korsett verpassen konnte.
Gefördert durch die Stiftung des Kaiserlichen Aero-Clubs veröffentlichte Kohler 1912 beispielsweise eine erste systematische Schrift zum "Luftfahrtrecht", in der er etwa die frische Frage nach der Reichweite des Grundeigentums stellt: Taugt das Schweizerische Zivilgesetzbuch, das in Art. 667 das Grundeigentum auch in den Luftraum erstreckt, für die moderne Technik? Aus dem britischen Jagdrecht und den englischen Präjudizien zum Anbringen von Telegraphendrähten zieht Kohler den Stoff zum Luftraum zusammen. Bald wird die Frage aktuell sein: Wie steht es um neutralen Luftraum im Kriegsfall?
Seinem energischen Zugriff auf die Lebenswirklichkeit und der rechtsvergleichenden Leidenschaft hatte Kohler, der sich formal nie habilitierte, seinen Ruf zu verdanken – seine frühe Schrift zum Patentrecht ebnete den akademischen Weg über die Universität Würzburg ins intellektuelle Zentrum der deutschen Rechtswissenschaft nach Berlin.
Die rechtliche Natur der Kurtaxe
Als technikaffiner Jurist war Kohler, wie sein Biograf Günter Spendel in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung (Nr. 113, 434-451) berichtet, viel mit dem Automobil unterwegs – damals Höllenmaschinen, die den ersten Flugzeugen kaum nachstanden.
Gut möglich, dass Kohler lieber in rasender Geschwindigkeit durch Deutschland tourte, statt mit der Berliner Oberschicht in Heiligendamm baden zu gehen, immerhin durften Automobile laut "Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" vom 3. Februar 1910 innerhalb geschlossener Ortschaften eine Fahrtgeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern erreichen, soweit sie mit Gummirädern ausgestattet waren sogar 16 Stundenkilometern. Damals war das noch den härtesten Workaholics genug.
Dass Kohler auch die Kur- und Seebäder kannte, belegt seine Schrift "Die Kurtaxe. Betrachtungen über ihre rechtliche Natur" von 1902. Bevor sich der eingangs erwähnte Schnulzenpoet Rainer Maria Rilke von seiner Freundin Helene von Nostiz zum Spaziergang entführen ließ, musste er ihr mit vorzeitiger Abreise drohen. Die entrichtete Kurtaxe wäre damit verlorengegangen. Das Problem, welche Rechtsnatur die "Kurtaxe" hat, ob sie öffentlich-rechtlich als Steuer oder privatrechtlich als Vorleistung auf die Nutzung der Kureinrichtungen zu verstehen ist, ist Gegenstand von Kohlers Schrift – ein rechtsvergleichendes "Es kommt darauf an" seine Antwort.
Das Brett des Karneades
1914/15 ging Josef Kohler aber sicher baden – mit dem "Brett des Karneades". Juristische Erstsemester kennen das Problem aus dem Strafrecht: Zwei Schiffbrüchige klammern sich an eine Planke, die nur einem von ihnen das Überleben sichert. Im "Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie" (Bd. 8, S. 411-451) deutete Kohler seine Lösung für das Problem, ob ein Schiffbrüchiger den anderen in den Tod schicken dürfe mit der Frage an: "Sollte man nicht einen Goethe retten dürfen, wenn sein Leben mit dem eines Indianers in Kollision tritt?"
Sein Aufsatz über "Das Notrecht" sollte erkennbar den deutschen Einmarsch ins neutrale Belgien akademisch rechtfertigen. Darum lag es nah, die "Indianer"-Stelle als eine Art Notstandsprivileg des rassisch oder moralisch Höherwertigen zu verstehen. Doch vielleicht greift das zu kurz. 1904 war Kohler zur Verleihung einer Ehrendoktorwürde nach Chicago gereist, zehn Tage über den Atlantik. In seinem autobiografisch gefärbten Roman, "Eine Faustnatur" (1908), repräsentiert ein "Wolfgang" ein Alter Ego Kohlers.
Sollte sich der beinah größte deutsche Jurist aller Zeiten selbst als Schiffbrüchiger ("Wolfgang") an der Planke in eine "Karneades"-Situation hineinphantasiert haben, könnte man wenigstens küchenpsychologisch erklären, warum ein so kluger und international anerkannter Jurist 1914 in kruden Nationalismus verfiel.
Ganz ungerechtfertigt ist das Mittel nicht. Denn Küchenpsychologie war natürlich auch eines der Themen Josef Kohlers, nur firmierte sie bei ihm noch als "Beweiserhebung und Seelenlehre", später umbenannt in "forensische Psychologie/Psychiatrie".
Martin Rath, Juristen im Sommer 1913: Hitler mit "ie" . In: Legal Tribune Online, 18.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9375/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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