August und Peter Reichensperger: Das P-Pro­blem des OLG Köln

von Martin Rath

07.09.2014

2/2: "Reaktionäre", liberaler als manch Liberaler

Aus dem zeitlichen Abstand von 150 Jahren wirken viele Ansichten der beiden Juristen aus Koblenz befremdlich, mitunter komisch. Modern und fast wörtlich auf die aktuellen Krisen im europäischen und internationalen Integrationsprozess lässt sich zwar das güldene Reichensperger-Wort anwenden, wonach bei völkerrechtlichen Verbünden "die mögliche Befestigung des Gesammt-Rechtsbewußtseins den Verirrungen des Nationalgefühls am wirksamsten vorbeugt". Ihre Auffassung beispielsweise, wonach der "Schulzwang von frühester Kindheit an […] die Körper [entnervt] und […] die Charaktere [verflacht], während der daraus sich ergebende Gewinn an sogenannter Intelligenz von sehr zweifelhaftem Werthe ist", wird hingegen in Zeiten von PISA-Studien selbstverständlich als reaktionär zu verdammen sein.

Doch es finden sich erfreuliche Wendungen: Die Linksliberalen ihrer Zeit wünschten der "Junker- und der Pfaffenbrut" gern ein revolutionär-blutiges Ende. Man kennt diese Albernheiten noch heute aus den Kabarettsendungen des ZDF, damals war derlei als Trinkspruch auf die Guillotinierung ganzer Bevölkerungskreise gängig. Hierzu fragten die Brüder Reichensperger nach: Ob denn die "Junker und die Pfaffen" in der Idee des Rechtsstaates "nicht inbegriffen" seien. Die bis heute so unangenehme Seite von Teilen der deutschen Öffentlichkeit, sich selbst für modern bzw. fortschrittlich zu halten und Anhänger des Hergebrachten nicht mit der Kraft des Arguments verführen, sondern sie lieber verachten zu wollen, findet hier ihre ersten scharfsinnigen Kritiker. In der Frage nach der Meinungsfreiheit anstößiger Wertvorstellungen ist das Thema heute so aktuell wie damals.

Zeit- und Zeitungskritiker

Politiker sind korrupt, will das in solchen Auffassungen ziemlich hirntote Online-Kommentariat unserer Tage wissen. Nicht nur im Vergleich dazu zeigten sich die Brüder Reichensperger als mitunter scharfsinnige Kritiker der politischen Korruption, der faulen Kompromisse und unglücklichen Unentschlossenheit:

So merkwürdig es sich heute liest, wenn sie etwa auf der Grundlage des deutschen Verfassungsrechts ihrer Zeit argumentieren, dass der Deutsche Bund seinem Mitgliedsstaat Österreich beistehen müsste, weil italienische Revolutionäre im damals österreichischen Venetien die politische Ordnung untergrüben – ob man sich das wirklich anders vorstellen muss als die Pasta- und Olivenöl-Variante der heutigen Ostukraine, sei einmal dahingestellt – analysieren sie, mit welch korrupten Strategien die italienische Einigung vorangetrieben wurde: Dem "Bismarck Italiens", Camillo Benso von Cavour (1810-1861) kreiden sie an, das italienische Nizza dem französischen Kaiserreich ausgeliefert zu haben, als Geschenk für die gewaltsame Einigung von Rest-Italien. Wenige Jahre später sollte Otto von Bismarck gute Teile der deutschen Presse nebst König Ludwig von Bayern mit Geldern korrumpieren, die er dem Königshaus von Hannover geraubt hatte. Zwei Weltkriege später mag man dem "Bottom-up"-Denken der Reichenspergers den Vorzug vor den "Top-down"-Strategien der historischen "Sieger" geben.

Die Stadt Köln erinnert mit dem Reichenspergerplatz, an dem sich seit 1911 das Oberlandesgericht findet, namentlich an August Reichensperger, der auch mit der Ehrenbürgerschaft unter anderem für seinen Einsatz geehrt wurde, den Kölner Dom nach mehreren hundert Jahren Baupause endlich fertigzustellen.

Als Vertreter eines "organischen" Wegs zu politischer Einheit mittels "rule of law" wird man die Brüder Reichensperger erst noch (wieder-) entdecken müssen. Die Dienststellen des Oberlandesgerichts werden es derweil wohl gern in Kauf nehmen, die Sache mit dem "b" und dem "p" noch eine Weile aufzuklären, bis man den beiden rheinländischen Reaktionären auch sonst gerechter wird.

Tipp: Die Kollegen vom "Umblätterer" nehmen sich der finsteren Feuilletonistik Reichenspergers an. Digitalisate einiger Schriften sind online greifbar: "Phrasen und Schlagwörter" oder "Deutschlands nächste Aufgaben".

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, August und Peter Reichensperger: Das P-Problem des OLG Köln . In: Legal Tribune Online, 07.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13103/ (abgerufen am: 06.05.2024 )

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