Psychiatrie: Der Sch­re­cken der Heil­an­stalt

von Martin Rath

18.02.2018

2/2: Humanisierung der Psychiatrie erst in den Anfängen

Selbst wenn man in Rechnung zieht, dass es vor 60 Jahren weniger gut angesehen war, eine psychische Störung sein eigen zu nennen als heute – zwischen schulbegleitendem Ritalinbedarf und dem für Manager fast honorigen Burnout –, wundert doch, dass das Landgericht seinerzeit den Regelstrafvollzug unbedingt für eine bessere Lösung als die strafrichterliche Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung hielt – und dies sogar im Fall eines nachgerade klassischen Hirngeschädigten mit legendärem Kontrollverlust auf dem Gebiet sexueller Hemmungen.

Drei Gründe könnten diese, heute etwas merkwürdig anmutende Tendenz der Berliner Richter erklären.

Der rückblickend vielleicht augenfälligste Grund: Erst seit Mitte der 1950er Jahre standen den psychiatrischen Anstalten Medikamente zur Verfügung, die mehr zu leisten schienen, als die Patienten bloß zu betäuben. Konnte ihnen bis dahin – im Idealfall – praktisch nur die motorische Unruhe genommen werden, allerdings in der Regel um den Preis, die Handlungsfähigkeit so gut wie vollständig zu verlieren, versprachen neuartige Neuroleptika nunmehr, gezielt jedenfalls Symptome wie Wahnvorstellungen oder Schwermut zu reduzieren.

Es kam – wortwörtlich – wieder Bewegung in die Patienten. Nahezu jeder Zeitzeuge berichtet hiervon wie von einem Frühlingserwachen.

Der zweite denkbare Vorbehalt dagegen, einen im Krieg hirnbeschädigten Mann in die Heilanstalt einzuweisen, überrascht. Zwölf Jahre nach dem Ende des NS-Staats, dessen zumeist stramm menschenverachtende Ärzteschaft Zehntausende geistig und körperlich Behinderte und psychisch Kranke systematisch ermordet hatte, sollte – so möchte man glauben – doch unmittelbare Lebensgefahr bei Einlieferung in eine Anstalt nicht mehr bestanden haben.

Für das Jahr 1957/58 mag das richtig sein.

Allerdings blieben die Anstalten, was – angesichts der seit den 1980er Jahren vorrangig betriebenen NS-Erinnerungsarbeit gerne vergessen wird – auch in der Nachkriegszeit Todeshäuser. Nach dem Ende des direkten Massenmords in den deutschen Nervenheilanstalten - ihn hielt der offene Protest insbesondere katholischer Geistlicher auf - waren die Patienten bereits seit 1941 systematisch ausgehungert worden.

Während die unauffällige Tötung der geschwächten Menschen mittels Medikamenten – entsprechend einem Vorschlag von Medizinern wie Paul Nitsche (1876–1948, hingerichtet) und Georg Renno (1907–1997) – mit der Befreiung ein Ende fand, ging der Hunger weiter.

Der große humanistische Psychiater Heinz Faulstich (1927–2014) schätzte in einer medizinhistorischen Studie, dass bis 1949 noch rund 20.000 Psychiatrie-Patienten verhungerten. Alliierte Stellen mussten die deutschen Ämter anweisen, die Anstalten bei der Verwaltung des allgemeinen Nahrungsmangels nicht weiter zu benachteiligen.

Der Schrecken der Heilanstalt

Schließlich dürfte vielen Juristen, die schon in den 1930er Jahren tätig gewesen waren – nach Inkrafttreten des Ausführungsgesetzes zu Artikel 131 Grundgesetz stieg die Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Behörden und Gerichten (West-) Deutschlands stark an – die Nervenheilanstalt als ein Schreckensort bekannt gewesen sein - und zwar ausgerechnet dank der nationalsozialistsichen Aus- und Fortbildungspraxis.

Allein in der bayerischen Anstalt Eglfing-Haar wurden seit 1934 im Rahmen von 195 nachgewiesenen "Rassenhygiene"-Kursen insgesamt 21.142 Beamte und Offiziere in dieser "Ausmerzungs-Weltanschauung" (Klaus Dörner) geschult. Diese Schulungen endeten erst im Februar 1945, also kurz vor der Befreiung durch die US-Armee. Die Vorführung "ausgesucht abschreckender Patienten" zählte regelmäßig mit zur Aus- und Fortbildung junger wie berufserfahrener Justiz- und Verwaltungsjuristen.

Außergewöhnliche Mediziner wie Walter Ritter von Baeyer (1904–1987) – ein Vorkämpfer auch darin, trotz Anfeindungen aus seiner Zunft den Einfluss von Kriegs- und Verfolgungserfahrungen auf psychische Erkrankungen anzuerkennen – kamen erst seit Mitte der 1950er Jahre in Ämter, die es ihnen ermöglichten, eine Humanisierung der Psychiatrie allmählich vorwärtszubringen.

Entsprechend lag es 1957 für Berliner Richter nahe, selbst einen evident unzurechnungsfähigen und – in sexuellen Übergriffen auf Kinder – rückfallgefährdeten Straftäter, wenn möglich, vor der forensischen Anstaltsunterbringung zu bewahren.

Gottlob wird eine Dämonisierung des psychisch Kranken heute nur von Populärmedien, beispielsweise mit solch widerlichen Produkten wie "Criminal Minds", und von populistischen Kirchturm-Politikern betrieben, nicht auch noch von Seiten der professionellen medizinischen Verantwortlichen.

Wenn die kleine Moral erlaubt ist: Im elenden Jubiläum "50 Jahre 1968" (schon die 20er, 25er, 30er und 40er-Epitaphien waren zum Augenrollen) lohnt es sich vielleicht, öfter auch einmal zehn Jahre weiter zurückzublicken – in jene Jahre, in denen die wirklich großen Veränderungen unserer Gesellschaft ihren Anfang nahmen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Psychiatrie: Der Schrecken der Heilanstalt . In: Legal Tribune Online, 18.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27089/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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