Noch 2018 wird über zentrale Fragen der psychiatrischen Behandlung gestritten. So liegt etwa die Fixierung derzeit in Karlsruhe. Dabei hatten bereits 1958 Juristen und Mediziner ihr Verhältnis zu den "Nervenleiden" neu zu bestimmen.
Die Rechtssache, über die der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 18. Februar 1958 (Az. 5 StR 603/57) zu entscheiden hatte, erinnert den Nachgeborenen zunächst stark an den Eisenbahn-Bauarbeiter Phineas Gage (1823–1860).
Gage, diesem pädagogisch und populärkulturell wohl bekanntesten Patienten der Psychiatrie-Geschichte, schoss im Jahr 1848 in Ausübung seines Berufs eine Stahlstange durch das Vorderhirn, als ihm die Vorbereitung einer Sprengung misslang. In der Folge veränderte sich das Verhalten des zuvor als umgänglich beschriebenen Gage. Ihm waren soziale Hemmungen abhandengekommen. Überliefert sind u. a. sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Kinder unter Verlust eines natürlichen Schamgefühls.
Seit dem Unfall des Phineas Gage im Jahr 1848 war man sich grundsätzlich eines Zusammenhangs zwischen der Verletzung bestimmter Gehirnareale und gewissen Verhaltensänderungen bewusst.
In der Sprache des Bundesgerichtshofs klang dies 1958 im gegebenen Fall so: "Der Angeklagte hat im Jahre 1943 an der Ostfront durch Granatsplitter schwere Kopfverletzungen erlitten. Er trug einen Stirnhirnschaden und wahrscheinlich auch Verletzungen des Zwischenhirns davon, wobei wahrscheinlich Blutungen im Gehirn zur Zerstörung von unersetzlichem, weil nicht regenerierbarem Hirngewebe geführt haben. Als Folge dieser Verletzungen ergab sich eine Veränderung seiner Persönlichkeit, besonders auf charakterlichem Gebiet."
Typische Konsequenz: Sexuelle Übergriffe
Der gehirngeschädigte "völlig erwerbsunfähige" Mann hatte bis 1957 – um wiederum den BGH zu zitieren – "eine Reihe von Straftaten, insbesondere auch Sittlichkeitsverbrechen begangen".
Zuletzt verurteilte ihn das Landgericht Berlin (West) zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und regte dabei an, einen "kleinen Rest der Strafe zum Zwecke der Bewährung auszusetzen", damit sich der Mann in die Hände eines Hirnspezialisten begeben könnte, der in Berliner Justizkreisen offenbar als eine Kapazität auf dem Gebiet vergleichbarer Schäden galt. Allerdings war diese Anregung im Eifer des Strafvollzugs vergessen worden, Bewährung wurde nicht gewährt.
1957 stand der Mann erneut wegen eines "Sittlichkeitsvergehens" vor Gericht. Erwogen wurde nun, ihn nach § 42 b Strafgesetzbuch (StGB) in eine Heil- oder Pflegeanstalt einzuweisen. Nach dieser Norm war ein Angeklagter, der die Tat im Zustand mindestens eingeschränkter "Zurechnungsfähigkeit" begangen hatte, dann einzuweisen, "wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert".
Das Berliner Gericht wollte, obwohl es den Hemmungsverlust beim Angeklagten für evident hielt, von der Einweisung absehen. Lieber sollte man es – noch einmal oder besser: überhaupt einmal – mit dem bekannten Nervenarzt versuchen, der – wie dem Gericht bekannt sei – "schon vielen Hirnverletzten zu helfen vermocht hat".
Das Landgericht Berlin (West) war augenscheinlich besorgt, dass der Mann ohne fachgerechte Therapie in der forensischen Psychiatrie verschwinden würde. Mit seinem Urteil vom 18. Februar 1958 zeigte der BGH einen Ausweg auf: Entgegen dem Wortlaut des § 42 f Abs. 4 StGB, der es dem Gericht eigentlich nur erlaubte, "während" der Anstaltsunterbringung zu prüfen, ob deren Zweck erreicht wird und den Untergebrachten zu entlassen, könne das Vollzugsgericht dies auch schon "vor" der Unterbringung tun – alles andere wäre "ein nicht zu vertretender Formalismus".
Nicht der Regelstrafvollzug sollte also zu Therapiezwecken zur Bewährung ausgesetzt werden. Der BGH wies vielmehr einen Weg, die forensische Anstaltsunterbringung zu vermeiden, sollte sich eine angemessene nervenärztliche Versorgung einrichten lassen.
2/2: Humanisierung der Psychiatrie erst in den Anfängen
Selbst wenn man in Rechnung zieht, dass es vor 60 Jahren weniger gut angesehen war, eine psychische Störung sein eigen zu nennen als heute – zwischen schulbegleitendem Ritalinbedarf und dem für Manager fast honorigen Burnout –, wundert doch, dass das Landgericht seinerzeit den Regelstrafvollzug unbedingt für eine bessere Lösung als die strafrichterliche Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung hielt – und dies sogar im Fall eines nachgerade klassischen Hirngeschädigten mit legendärem Kontrollverlust auf dem Gebiet sexueller Hemmungen.
Drei Gründe könnten diese, heute etwas merkwürdig anmutende Tendenz der Berliner Richter erklären.
Der rückblickend vielleicht augenfälligste Grund: Erst seit Mitte der 1950er Jahre standen den psychiatrischen Anstalten Medikamente zur Verfügung, die mehr zu leisten schienen, als die Patienten bloß zu betäuben. Konnte ihnen bis dahin – im Idealfall – praktisch nur die motorische Unruhe genommen werden, allerdings in der Regel um den Preis, die Handlungsfähigkeit so gut wie vollständig zu verlieren, versprachen neuartige Neuroleptika nunmehr, gezielt jedenfalls Symptome wie Wahnvorstellungen oder Schwermut zu reduzieren.
Es kam – wortwörtlich – wieder Bewegung in die Patienten. Nahezu jeder Zeitzeuge berichtet hiervon wie von einem Frühlingserwachen.
Der zweite denkbare Vorbehalt dagegen, einen im Krieg hirnbeschädigten Mann in die Heilanstalt einzuweisen, überrascht. Zwölf Jahre nach dem Ende des NS-Staats, dessen zumeist stramm menschenverachtende Ärzteschaft Zehntausende geistig und körperlich Behinderte und psychisch Kranke systematisch ermordet hatte, sollte – so möchte man glauben – doch unmittelbare Lebensgefahr bei Einlieferung in eine Anstalt nicht mehr bestanden haben.
Für das Jahr 1957/58 mag das richtig sein.
Allerdings blieben die Anstalten, was – angesichts der seit den 1980er Jahren vorrangig betriebenen NS-Erinnerungsarbeit gerne vergessen wird – auch in der Nachkriegszeit Todeshäuser. Nach dem Ende des direkten Massenmords in den deutschen Nervenheilanstalten - ihn hielt der offene Protest insbesondere katholischer Geistlicher auf - waren die Patienten bereits seit 1941 systematisch ausgehungert worden.
Während die unauffällige Tötung der geschwächten Menschen mittels Medikamenten – entsprechend einem Vorschlag von Medizinern wie Paul Nitsche (1876–1948, hingerichtet) und Georg Renno (1907–1997) – mit der Befreiung ein Ende fand, ging der Hunger weiter.
Der große humanistische Psychiater Heinz Faulstich (1927–2014) schätzte in einer medizinhistorischen Studie, dass bis 1949 noch rund 20.000 Psychiatrie-Patienten verhungerten. Alliierte Stellen mussten die deutschen Ämter anweisen, die Anstalten bei der Verwaltung des allgemeinen Nahrungsmangels nicht weiter zu benachteiligen.
Der Schrecken der Heilanstalt
Schließlich dürfte vielen Juristen, die schon in den 1930er Jahren tätig gewesen waren – nach Inkrafttreten des Ausführungsgesetzes zu Artikel 131 Grundgesetz stieg die Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Behörden und Gerichten (West-) Deutschlands stark an – die Nervenheilanstalt als ein Schreckensort bekannt gewesen sein - und zwar ausgerechnet dank der nationalsozialistsichen Aus- und Fortbildungspraxis.
Allein in der bayerischen Anstalt Eglfing-Haar wurden seit 1934 im Rahmen von 195 nachgewiesenen "Rassenhygiene"-Kursen insgesamt 21.142 Beamte und Offiziere in dieser "Ausmerzungs-Weltanschauung" (Klaus Dörner) geschult. Diese Schulungen endeten erst im Februar 1945, also kurz vor der Befreiung durch die US-Armee. Die Vorführung "ausgesucht abschreckender Patienten" zählte regelmäßig mit zur Aus- und Fortbildung junger wie berufserfahrener Justiz- und Verwaltungsjuristen.
Außergewöhnliche Mediziner wie Walter Ritter von Baeyer (1904–1987) – ein Vorkämpfer auch darin, trotz Anfeindungen aus seiner Zunft den Einfluss von Kriegs- und Verfolgungserfahrungen auf psychische Erkrankungen anzuerkennen – kamen erst seit Mitte der 1950er Jahre in Ämter, die es ihnen ermöglichten, eine Humanisierung der Psychiatrie allmählich vorwärtszubringen.
Entsprechend lag es 1957 für Berliner Richter nahe, selbst einen evident unzurechnungsfähigen und – in sexuellen Übergriffen auf Kinder – rückfallgefährdeten Straftäter, wenn möglich, vor der forensischen Anstaltsunterbringung zu bewahren.
Gottlob wird eine Dämonisierung des psychisch Kranken heute nur von Populärmedien, beispielsweise mit solch widerlichen Produkten wie "Criminal Minds", und von populistischen Kirchturm-Politikern betrieben, nicht auch noch von Seiten der professionellen medizinischen Verantwortlichen.
Wenn die kleine Moral erlaubt ist: Im elenden Jubiläum "50 Jahre 1968" (schon die 20er, 25er, 30er und 40er-Epitaphien waren zum Augenrollen) lohnt es sich vielleicht, öfter auch einmal zehn Jahre weiter zurückzublicken – in jene Jahre, in denen die wirklich großen Veränderungen unserer Gesellschaft ihren Anfang nahmen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Martin Rath, Psychiatrie: Der Schrecken der Heilanstalt . In: Legal Tribune Online, 18.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27089/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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