Gestrichene Prüfungsorte in Bayern

Laptop und Land­straße

Gastbeitrag von Holm PutzkeLesedauer: 6 Minuten

Bayern streicht Prüfungsstandorte, um das E-Examen einzuführen. Das schafft Ungleichheit und macht nicht nur die Juristenausbildung unattraktiver, sondern wird auch zum übergeordneten Glaubwürdigkeitsproblem für die Politik, meint Holm Putzke.

Ein fiktiver Einstieg: R ist Rechtsreferendar und möchte Volljurist werden, weshalb er nach einem Jurastudium an einer bayerischen Universität die Erste Juristische Staatsprüfung mit sechs Abschlussklausuren absolviert hat. Nach der Referendarzeit steht nun die Zweite Juristische Prüfung mit neun fünfstündigen Klausuren bevor, die ab dem zweiten Termin im Jahr 2024 in Bayern - zunächst auf freiwilliger Basis - auch in elektronischer Form geplant ist, kurz: als E-Examen.

Konkret bedeutet das: Von Dienstag bis Freitag, unterbrochen nur von den zwei Tagen des Wochenendes, und noch einmal von Montag bis Freitag ist R täglich von 8.30 Uhr bis 13.30 Uhr damit beschäftigt, das in mindestens sechs Jahren gesammelte Wissen abzurufen.

Dabei ist der zu beherrschende Prüfungsstoff gewaltig: Er umfasst den gesamten Stoff der Ersten Juristischen Staatsprüfung unter Berücksichtigung der in der praktischen Ausbildung angestrebten Ergänzung und Vertiefung, insbesondere das Prozess- und teilweise Vollstreckungsrecht sowie das Recht einzelner Berufsfelder, etwa das Beamtenrecht, das anwaltliche Berufs- und Gebührenrecht, Grundzüge des Sozialrechts, das Informationstechnologierecht oder das Steuerrecht.

Das alles schüttelt man – Juristen und die meisten Angehörigen wissen das – nicht mal eben aus der Hand. Das alles ist verbunden mit Mühsal, Schweiß und Tränen. Denn vom Bestehen des Examens hängt nicht weniger ab als der weitere berufliche Weg und Erfolg. Ohne zweites Staatsexamen bleibt der Zugang zu den juristischen Kernberufen – Rechtsanwalt, Richter, Staatsanwalt – verschlossen. Zudem kann die Abschlussnote Türen öffnen, solche aber auch - etwa in der Justiz - für immer verschlossen halten. Kurzum: Es geht um was.

Nun könnte man meinen, dass Juristen, die es selber durchgemacht haben, das alles wissen und nicht auf die Idee kommen, die Bedingungen zu verschärfen und den Stress auch noch zu erhöhen. Doch weit gefehlt: Deutschlandweit streichen Justizprüfungsämter Ruhetage und Prüfungsorte. Zugegeben: Je nach Bundesland wirkt sich das unterschiedlich harsch aus. Ob jemand von Tübingen ins wenige Kilometer entfernte Reutlingen fahren muss, um dort Klausuren zu schreiben, oder von Heidelberg nach Mannheim oder Landshut nach München, ist etwas anderes als von Bayreuth nach Bamberg oder gar von Passau nach Regensburg. Ungleichheit schafft es aber allemal.

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Von Passau nach Regensburg: Eine unsichere Reise

Will R aus Passau rechtzeitig am circa 120 Kilometer entfernten Prüfungsort in Regensburg sein, muss er allerspätestens den Zug um sechs Uhr nehmen, der Regensburg planmäßig um 7.24 Uhr erreicht. Verpasst er bei sechsminütiger Umstiegszeit den Anschluss in Plattling, verschiebt sich seine Ankunft auf 7.50 Uhr – vorausgesetzt, es läuft ab dann alles planmäßig. Vom Regensburger Hauptbahnhof bis zum Prüfungsort braucht es aber auch noch Zeit. Sicherer wäre es also, bereits den Zug um 5.23 Uhr ab Passau zu nehmen. Allerdings kommt R zu dieser Zeit noch nicht sicher mit einem Bus zum Bahnhof.  

Wer ein Auto hat, könnte damit fahren, doch werden die Kosten dafür nur erstattet, wenn ein weiterer anspruchsberechtigter Referendar mitfährt. Und es bleibt das Stauproblem auf der A3. Also doch besser in einem Hotel in Regensburg einquartieren, fern der gewohnten Umgebung, ohne Zugriff auf die über die Jahre gesammelten Lernunterlagen und Bücher, angewiesen auf Gastronomie und ohne die Möglichkeit, unproblematisch vertraute Personen zu treffen? Auch dafür ist die Kostenerstattung durch den Dienstherrn keineswegs sicher, sondern hängt davon ab, ob ein Reiseantritt vor sechs Uhr wirklich notwendig ist. Darf R die notorische Unzuverlässigkeit der Bahn anführen, um auf den Zug um 5.23 Uhr zu verweisen, oder wird ihm die Reisekostenstelle mitteilen, dass der Sechs-Uhr-Zug ausreichend ist und eine Kostenübernahme verwehren? Wer weiß das alles schon.

E-Examen ja, aber zu gleichen Bedingungen für alle

Die kleinteilige Beschreibung des Problems für R ist wichtig, um die Dimension zu erfassen – auch für Nichtjuristen. Wer Juristen generell nicht mag, wird natürlich auch dann kein Mitleid empfinden. Aber ob etwas zumutbar und richtig ist, darf und sollte nicht von Sympathie abhängen.

Die Frage nach der Zumutbarkeit ist aber nur ein Teil des Ganzen. Anlass, die Prüfungsbegleitumstände zu verschlechtern, ist vordergründig die Umstellung auf das E-Examen. Keine Frage: Die Implementierung eines elektronisch ausgestalteten schriftlichen Examens ist wichtig und notwendig. Allerdings ist Digitalisierung gerade dazu da, das Leben zu erleichtern, nicht hingegen, um Benachteiligungen zu verursachen oder gar bei Betroffenen Ängste und Stress auszulösen.

Es geht also genau genommen nicht nur um die Zweite Juristische Staatsprüfung am Prüfungsstandort Passau. Vielmehr geht es ganz allgemein auch um die Folgen von Digitalisierung. Wenn Digitalisierung bedeutet, dass es manchen am Ende schlechter geht als anderen und einige gegenüber anderen sogar benachteiligt werden, ist das alles andere als vertrauensfördernd. Digitale Transformationsprozesse sind aber für die Zukunft unserer Volkswirtschaft und Gesellschaft zu wichtig, um leichtfertig Entwicklungen zuzulassen, die Ablehnung erzeugen oder gar als Bedrohung empfunden werden. Mancher mag das für übertrieben halten, wenn es um die Streichung eines Prüfungsortes geht – aber bei Lichte betrachtet sind es die kleinen Mosaikstückchen wie eine vermeintlich kleine Streichung von Prüfungsstandorten, die sich am Ende auf das Gesamtbild auswirken.

Für die Rechts- und Nachwuchspolitik wird das zum Problem

Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: politische Glaubwürdigkeit. Um die ist es – parteiübergreifend – generell nicht gut bestellt. Die zahllosen Beispiele von umfragegetriebenen politischen Richtungswechseln sind allgemein bekannt und können deshalb hier unerwähnt bleiben. Konkret geht es um einen Aspekt, der besonders für bayerische Politik geradezu herausragend ist, nämlich die Dezentralisierung und Stärkung des ländlichen Raums zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Wenn die Politik und Parteien sich schulterklopfend die Förderung der Regionen auf die Fahnen schreiben, die nicht ohnehin zu den attraktiven Ballungsräumen zählen, beschädigt es die Glaubwürdigkeit, wenn man gleichzeitig dafür sorgt, dass diese Regionen durch von oben verordnete Entscheidungen geschwächt werden.

Im erst Anfang Mai 2023 beschlossenen Grundsatzprogramm der CSU heißt es beispielsweise zum Stichwort "Chancen der Digitalisierung" vollmundig: "Der Mensch steht dabei immer im Mittelpunkt." Und weiter: "Die Digitalisierung bietet die Chance, unser in der Bayerischen Verfassung verankertes Ziel von gleichwertigen Lebensverhältnissen für die Menschen in Stadt und Land in ganz Bayern entscheidend voranzubringen."  

Wenn das von der CSU geführte Staatsministerium der Justiz also nicht einlenkt, sieht die Realität für Passauer Juristen ab 2024 anders aus – nämlich im Vergleich mit anderen Referendaren alles andere als "gleichwertig". Entweder müssen sie an neun Tagen zusätzlich zu den fünfstündigen Klausuren noch mindestens drei weitere Stunden unterwegs zu sein, um täglich 240 Kilometer an- und abzureisen, oder aber fast zwei Wochen in einem Hotel in Regensburg verbringen. Statt dem berüchtigten Polit-Slogan "Laptop und Lederhose" gilt für Passauer Juristen dann "Laptop und Landstraße".

Entscheidend sind – wenig überraschend – nicht die wohlklingenden Versprechen in Parteiprogrammen oder Parteitagsreden. Vielmehr zeigt die Realität, ob zum Beispiel primär Kosten- und Praktikabilitätserwägungen politisches Handeln bestimmen – oder tatsächlich der Mensch im Mittelpunkt steht. In letzterem Falle gilt: Es ist keinesfalls der richtige Weg, Prüfungsorte zu streichen. Im Gegenteil: Man muss sie erhalten.

Der Autor Prof. Dr. Holm Putzke ist Inhaber einer Professur für Strafrecht an der Universität Passau sowie außerplanmäßiger Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden, zudem als Strafverteidiger tätig und Richter beim Bundessport- und Schiedsgericht des Bundes Deutscher Radfahrer e.V. Außerdem ist er CSU-Mitglied und Bezirksvorsitzender des CSU-Arbeitskreises Juristen Niederbayern und war von 2017 bis 2022 Vorsitzender des CSU-Kreisverbands Passau-Stadt.

Gemeinsam mit prominenten Erstunterzeichnern hat er, gerichtet an den Bayerischen Justizminister Georg Eisenreich, eine Online-Petition initiiert, um zu erreichen, dass die Streichung von Prüfungsorten revidiert wird.

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