BVerwG zur Identitätstäuschung im Staatsexamen

Der unsicht­bare Dritte

Gastbeitrag von Jannina SchäfferLesedauer: 4 Minuten

Das Prüfungsamt unterstellte einem Examenskandidaten, sein Zwilling habe die Klausuren für ihn geschrieben. Laut einem Schriftgutachten war es keiner von beiden. Trotzdem hat der Prüfling das Examen nach einem BVerwG-Urteil nun bestanden.

Für den Jurastudenten ging es um seine Zukunft, als er im August 2018 zum Wiederholungsversuch des ersten Staatsexamens antrat. Wegen eines angeblichen Täuschungsversuchs ließ ihn das zuständige Justizprüfungsamt (JPA) jedoch durchfallen. Der Grund erinnert an Erich Kästners "doppeltes Lottchen": Das Prüfungsamt unterstellte dem Kandidaten, dass dessen Zwillingsbruder die im Rahmen der Prüfung geforderten sechs Klausuren angefertigt habe. Zum Beweis dieses angeblichen Täuschungsversuchs holte die Behörde ein Schriftgutachten ein. Und jetzt wird es noch kurioser: Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass weder der Prüfling noch dessen Zwillingsbruder die Klausuren geschrieben haben soll. Vielmehr stammten alle sechs Klausuren laut Sachverständigem aus der Hand eines unbekannten Dritten.

Wie es dazu gekommen sein soll, blieb aber völlig unklar. Schließlich müssen die Examenskandidat:innen vor Prüfungsbeginn Ladung und Personalausweis vorlegen. Gibt es also noch einen Drilling, den die beiden Brüder nicht kennen?

Wer der Dritte sein könnte, ist auch nach über fünf Jahren Rechtsstreit offen. Was das Examen angeht, kann der Prüfling jetzt aber erleichtert aufatmen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschied, dass er die Prüfung bestanden habe (Beschl. v. 13.12.2023, Az. 6 B 13.23). Das Gericht bestätigte damit ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) NRW in Münster, wonach das Schriftgutachten kein klarer Beleg für einen Täuschungsversuch gemäß § 22 Juristenausbildungsgesetz (JAG) NRW sei.

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Wie soll der Unbekannte in die Prüfungsräume galangt sein?

Das Verwaltungsgericht (VG) Köln hatte die Klage des Studierenden gegen den Bescheid des JPA noch abgewiesen. Es war aufgrund des Schriftgutachtens davon überzeugt, dass der Prüfling die Klausuren nicht selbst verfasst hatte. Dem schloss sich das OVG NRW jedoch nicht an und hob den Bescheid des Prüfungsamtes auf.

Allein durch das eingeholte Sachverständigengutachten werde der Täuschungsversuch nicht überzeugend belegt, so das Gericht. Das Ergebnis des Gutachtens – weder der Prüfling noch sein Zwillingsbruder, sondern ein unbekannter Dritter habe die Aufsichtsarbeiten verfasst – sei nicht plausibel. 

Insbesondere werde die Identität der Prüflinge von Mitarbeitern des Prüfungsamtes an jedem Klausurtag anhand der Ladung und eines Ausweisdokuments überprüft. Andere belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der Prüfling an den Klausurtagen nicht persönlich anwesend gewesen war und die Aufsichtsarbeiten nicht selbst verfasst hatte, bestanden laut OVG nicht. Die hieraus folgende beweisrechtliche Pattsituation (non liquet) gehe zu Lasten des Prüfungsamtes.

Die Revision ließ das OVG nicht zu. Hiergegen wendete sich das JPA mit einer Nichtzulassungsbeschwerde – und scheiterte damit vor dem BVerwG.

Hätte die Klausuraufsicht Licht ins Dunkel bringen können?

Mit seiner Argumentation, das Berufungsurteil weise Verfahrensmängel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf, drang das JPA bei den Leipziger Richter:innen nicht durch. Insbesondere habe das Tatsachengericht seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung aus § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt.

Das JPA selbst habe versäumt, in der Berufungsverhandlung entsprechende Beweisanträge zu stellen. Die Behörde hatte erst mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet, dass das OVG die bei der Klausur Aufsicht führenden Personen nicht als Zeug:innen vernommen hatte. In den beiden Tatsacheninstanzen hatte das Prüfungsamt die Vernehmung aber laut BVerwG gar nicht beantragt.

Das JPA rügte zudem, die OVG-Richter:innen hätten gegen die richterliche Hinweispflicht verstoßen: Sie hätten die gemäß § 86 Abs. 3 VwGO gebotenen Hinweise nicht erteilt, bevor sie die – nach Ansicht des JPA überraschende – Entscheidung erließen. Hätte das Prüfungsamt gewusst, dass dem Gericht das Schriftgutachten nicht ausreiche, hätte man weitere Beweismittel angeboten.

Auch das überzeugte das BVerwG nicht. Das Tatsachengericht sei gerade nicht verpflichtet, den Beteiligten seine beabsichtigte Beweiswürdigung bereits vor der mündlichen Verhandlung zu offenbaren. Sei das Prüfungsamt in der Verhandlung tatsächlich überrascht worden, hätte es Vertagung oder einen Schriftsatznachlass beantragen müssen.

Der unbekannte Dritte bleibt ein Mysterium

Eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung sei ebenfalls nicht gegeben. Sich im Wege der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 S. 1 VwGO) die Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu bilden, ist nämlich Sache des Tatrichters. Die Beweiswürdigung ist vom BVerwG nicht darauf zu überprüfen, ob die Gewichtung einzelner Umstände und deren Gesamtwürdigung überzeugend sind. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung wurde hier laut BVerwG also nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass das Prüfungsamt aus dem vorliegenden Tatsachenmaterial andere Schlüsse zieht als das OVG.

Die Sachverhaltswürdigung verstoße auch nicht gegen Denk- und Naturgesetze, sei weder widersprüchlich noch aktenwidrig oder unlogisch. Das Gericht habe schlicht das Ergebnis des Schriftgutachtens – ein unbekannter Dritter habe die Aufsichtsarbeiten verfasst – mit Blick auf den Ablauf der Prüfung und die Personenkontrollen an den Prüfungstagen als nicht überzeugend angesehen. Und das sei legitim.

In dem Fall des doppelten oder gar dreifachen Lottchens aus NRW erfolgt also keine weitere Sachaufklärung.

Wie schon vor kurzem errang ein Prüfling nun vor dem BVerwG einen Sieg, der ihn davor bewahrt, eine Staatsexamensprüfung endgültig nicht zu bestehen. Offen aber bleiben die spannendsten Fragen des Falls: Hat wirklich ein Dritter die Klausuren verfasst? Wer ist die unbekannte Person? Handelt es sich wirklich um einen verlorenen Drilling? Das wird die Öffentlichkeit wohl nie erfahren.

Jannina Schäffer ist Gründerin und Chefredakteurin des Online Magazins "JURios – kuriose Rechtsnachrichten". Die Volljuristin promoviert berufsbegleitend an der Deutschen Hochschule der Polizei.

Red. Hinweis: Im Text hieß es zunächst, das zuständige JPA sei das JPA Hamm gewesen und in der ersten Instanz habe das VG Münster entschieden. Jedenfalls Letzteres trifft nicht zu. Welches JPA zuständig war, ergibt sich aus dem Urteil des BVerwG nicht, aufgrund der gesetzlichen Zuständigkeitsregeln liegt aber nahe, dass es sich um das JPA Köln gehandelt hat. Korrigierte Fassung vom 06.02.2024, 15:17 Uhr. 

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