"Wer nur juristische Fälle lösen will, ist bei uns fehl am Platz"
LTO: Frau Biermann, Sie haben 2002 Ihr Zweites Juristisches Staatsexamen absolviert und haben seither – bis auf einen kurzen Ausreißer in einer Anwaltskanzlei – beruflich immer Gewerkschaftsarbeit gemacht. Wie kam es zu dieser Festlegung?
Birgit Biermann: Ich bin im Ruhrgebiet in einem politisch-geprägten Elternhaus aufgewachsen. In meiner Familie sind alle Gewerkschafter. Mein Großvater zum Beispiel war Betriebsrat bei der IG Metall, meine Mutter hat sich bei der Verdi engagiert. Ich war eine der Ersten in meiner Familie, die studiert hat. Ich hatte mich damals eigentlich für Jura entschieden, um später ins Strafrecht zu gehen.
Dann kam ich aber doch mit der Gewerkschaftsarbeit in Berührung – und für mich war schnell klar, dass das auch mein berufliches Umfeld sein soll. Das Engagement für faire Arbeitsbedingungen, betriebliche Mitbestimmung, ausgeprägte Arbeitnehmerrechte und berufliche Bildung lag mir immer am Herzen. Einfach nur x-beliebige juristische Fälle zu bearbeiten, war mir zu wenig. Daher war mein Ausflug in eine Rechtsanwaltskanzlei 2005 auch nur von kurzer Dauer: Ich wollte bei meiner Arbeit nicht mit einem Auge auf die anwaltliche Gebührenordnung schielen.
Seit dem Jahr 2006 sind Sie bei der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) tätig. Zunächst waren Sie Gewerkschaftssekretärin mit Rechtsschutzaufgaben im Bezirk Dortmund. Was kann man sich darunter vorstellen?
Ich habe vor allem die Gewerkschaftsmitglieder im Arbeits- und Sozialrecht vertreten. Mittlerweile geben wir diese Aufgaben an die Rechtsschutz GmbH des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ab, die die Mitglieder der dort vereinigten Gewerkschaften in Rechtsfragen vertritt. Früher hatte die IGBCE aber eigene Rechtsschutzsekretärinnen und -sekretäre.
"Meine Tätigkeit ist politischer geworden"
Sieben Jahre später wurden Sie zunächst stellvertretende Leiterin des IGBCE-Bezirks Gelsenkirchen, 2017 übernahmen Sie die Leitung des Bezirks Dortmund-Hagen. Wie sah Ihre Arbeit in dieser Zeit aus?
Durch diesen Wechsel hin zur klassischen "Gewerkschaftssekretärin" ist meine Tätigkeit weniger juristisch, dafür deutlich politischer geworden. Ich habe Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite geführt und war Ansprechpartnerin für die Betriebsräte und Beschäftigten in den Betrieben, die ich in unserem Bezirk betreut habe. Einen großen Teil meiner Tätigkeiten machte die politische Arbeit aus, ich habe beispielsweise Gespräche mit Bürgermeistern und Abgeordneten geführt, um die Positionen und Forderungen der IGBCE zu stärken.
"Ich selbst prüfe keine Fälle mehr"
Mittlerweile sind Sie Stellvertretende Vorsitzende der IGBCE und verantworten u. a. die Bereiche Recht, Justiziariat, Unternehmensmitbestimmung und Datenschutz. Konkret juristisches Arbeiten dürfte damit aber auch nicht mehr verbunden sein.
Nein, das ist richtig. Es gibt bei uns in der IGBCE-Hauptverwaltung in Hannover einige Juristinnen und Juristen, die sich um die klassischen, für Gewerkschaftsmitglieder relevanten Rechtsgebiete Tarifrecht, Arbeits- und Sozialrecht und Betriebsverfassung kümmern.
Ich selbst prüfe keine Fälle mehr. Das heißt aber nicht, dass meine juristische Qualifikation nicht mehr gefragt ist. Sie hilft mir dabei, einschätzen zu können, was es etwa heißt, dass die Unternehmensmitbestimmung ausgehöhlt wird. Auch das juristische Handwerkszeug kann ich in meiner jetzigen Funktion gut gebrauchen. In der juristischen Ausbildung lernt man ja, Sachverhalte strukturiert zu erfassen und lösungsorientiert zu denken. Und so arbeite ich auch: Ich erkenne relativ schnell die wichtigen Themen und Probleme, die man als erstes angehen muss. "Wer will was von wem woraus?" hilft da übrigens auch.
Sie sind im Spitzenteam der IGBCE nicht nur die einzige Person mit juristischer Ausbildung, sondern auch die einzige Frau. Wird in Ihrer Organisation männliche Dominanz noch größer als anderswo geschrieben?
Nein, wir haben viele Frauen in Führungspositionen bei der IGBCE. Auf allen Ebenen, vom Gewerkschaftsvorsitz bis zur regionalen Bezirksleitung, gibt es gemischt-geschlechtliche Führungsduos. Das ist für uns nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch eines erfolgreichen Managements. Aber natürlich haben Sie auch Recht. Als der Hauptvorstand im November das bisherige Führungsteam für eine weitere Amtszeit nominiert hat, war es unser Ziel, "in unruhigen Zeiten Kontinuität sicherzustellen". Das aktuelle Geschlechterverhältnis ist nur eine Momentaufnahme und wir haben es alle im Blick, dass sich hier etwas ändert.
"Ich bin in zwei Aufsichtsräten und engagiere mich ehrenamtlich in Stiftungen"
Neben Ihrer eigentlichen Vorstandsarbeit ist Ihr Gewerkschaftsjob noch mit anderen Tätigkeiten verknüpft. So sind Sie als Vertreterin der Arbeitnehmerseite in Aufsichtsräten aktiv und engagieren sich zudem ehrenamtlich.
Ja, ich bin in zwei Aufsichtsräten, und zwar beim Pharmaunternehmen Merck und bei Adidas. Und ich bin im Hochschulrat der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum. Die Hochschule macht auch viel für Studierende, die nicht so leicht in ein klassisches Studium kommen.
Außerdem bin ich Vorstandsvorsitzende "unserer" Stiftung, der August-Schmidt-Stiftung. Die Stiftung kommt mit einer kleinen Rente für Waisen auf, deren Eltern im Organisationsbereich der IGBCE gearbeitet haben und bei Arbeitsunfällen oder an einer Berufskrankheit verstorben sind. Bei einer besonderen Notlage der Waisen kann der Vorstand auch über Einmalzahlungen entscheiden. Die Arbeit liegt mir sehr am Herzen, weil die Stiftung die Kinder in einer der schlimmsten Situationen, die man sich vorstellen kann, unterstützt.
Weiter bekleide ich aktuell das Amt der alternierenden Vorstandsvorsitzenden der Knappschaft Bahn See für die Gruppe der Versicherten. Die Knappschaft ist so strukturiert, dass die Geschäftsführung in enger Absprache mit dem Vorstand handelt. Deshalb beschäftigen wir uns dort auch mit vielen sozialpolitischen Fragen, die im Arbeitsministerium, Bundesamt für Soziale Sicherung oder im Gesundheitsministerium "gespielt" werden.
Würden Sie Jura-Absolventen den Job in einer Gewerkschaft ans Herz legen?
Das kommt drauf an. Wer als Jurist nur juristische Fälle lösen will, ist bei uns fehl am Platz.
In einer Gewerkschaft zu arbeiten, bedeutet, sich für die Werte unserer Organisation einzusetzen. Und zwar auf allen Ebenen unserer Arbeit: in den Betrieben, in der Gesellschaft und in der Politik. Die IGBCE ist auf allen drei Ebenen präsent und übernimmt eine Schlüsselrolle in der Gestaltung und Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder. Wenn man sich für etwas Größeres als für den Fall engagieren will und sich zudem für Politik interessiert, ist man in einer Gewerkschaft richtig.
"Die AfD steht gegen alle unsere Werte"
Apropos Politik: Wie sehr graut es Ihnen – nicht als SPD-Mitglied, sondern als Gewerkschafterin – vor einer möglichen Bundesregierung unter einem Kanzler Friedrich Merz (CDU)?
Mir graut es eher vor einem starken Wahlergebnis der AfD. Diese Partei beabsichtigt die Abschaffung des solidarischen Miteinanders und steht gegen alle unsere Werte.
Die DGB-Gewerkschaften haben immer deutlich gemacht, dass die AfD unseren Interessen und denen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diametral zuwiderläuft. Und nach den letzten Wahlen im Osten haben wir unmissverständlich an die demokratischen Parteien appelliert, dass es mit der AfD keine Zusammenarbeit geben darf. Ich kann auch an dieser Stelle nur betonen: Wer am 23. Februar sein Kreuz bei der AfD macht, schadet Deutschland und unserem demokratischen Rechtsstaat.
Klare Haltung, aber für einen Unvereinbarkeitsbeschluss hat es in der IGBCE bislang nicht gereicht. Haben Sie Angst, dass Sie sich sonst von vielen Mitgliedern trennen müssten? Untersuchungen zufolge soll es ja in den Gewerkschaften einen höheren Anteil an AfD-Wählerinnen und -Wählern geben als in der Gesamtbevölkerung.
In unserer Satzung wird klargestellt, dass die Mitgliedschaft in der IGBCE nicht vereinbar mit einer Mitgliedschaft in Parteien, Vereinigungen und Organisationen ist, die für verfassungsfeindlich erklärt wurden, wie zum Beispiel die NPD. Die AfD ist nicht verboten, sondern wird vom Verfassungsschutz bislang bundesweit "nur" als Verdachtsfall geführt.
Etwas anderes gilt aber, wenn IGBCE-Mitglieder aufgrund ihres Verhaltens gegen unsere Werte verstoßen. Die IGBCE orientiert ihr Handeln am solidarischen und respektvollen Miteinander, an sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Gleichberechtigung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Qualifikation, Herkunft, Religion und Weltanschauung sowie sexueller Orientierung. Wer dagegen trommelt, hat in unserer Organisation nichts verloren und kann ausgeschlossen werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Birgit Biermann (51) ist Volljuristin und Stellvertretende Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE). Diese ist Mitglied im Deutschengewerkschaftsbund (DGB) und entstand 1997 durch Fusion der IG Bergbau und Energie (IG BE) mit der IG Chemie-Papier-Keramik (IG CPK) und der Gewerkschaft Leder (GL). Sie hat ihren Sitz in Hannover.
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2025 M01 29
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