Foto: Cavan - Stock Adobe
Man argumentiert einfach
Bei den Juristen fangen die Unterschiede zwischen Finnland und Deutschland schon früh an. Während in Deutschland jeder Abiturient Jura studieren kann, wenn er das möchte, ist das in Finnland ganz anders: Dieses Jahr bekamen nur rund 3,5 Prozent der Bewerber einen Studienplatz an einer der fünf juristischen Fakultäten.
Wer einmal an der Uni ist, schafft es wegen geringer Durchfallquoten aber auch zum Abschluss. Es gibt kein Examen, sondern man sammelt Punkte und schreibt am Ende eine Magisterarbeit – im Aufbau ist das Studium also an das Bologna-System angeglichen. Trotz der unterschiedlichen Herangehensweise sind generelle Qualitätsunterschiede zwischen finnischen und deutschen Juristen schwer auszumachen. Ich habe in beiden Ländern viele gute Juristen kennengelernt, aber auch viele schlechte. Für Anwälte gilt das erst recht.
Für Noten interessiert sich in Finnland niemand – wenn Kanzleien Stellen ausschreiben, wollen sie von Bewerbern oft nicht einmal das Abschlusszeugnis sehen. Stattdessen kommt es vor allem auf die Arbeitserfahrung an. Studienbegleitende Praktika sind daher sehr wichtig – zumal es kein Referendariat gibt – und meist gut bezahlt.
Titel zählen nicht, an Forschung mangelt es
Deutsche lieben Titel – Finnen nicht. In der Regel promoviert nur, wer wirklich mit einer akademischen Karriere liebäugelt. Allerdings gibt es in Finnland auch keine Habilitation, die Promotion ist also der höchste akademische Grad und nimmt viel Zeit in Anspruch. Auf dem Arbeitsmarkt hat man davon nur Nachteile und lediglich eine Handvoll finnischer Rechtsanwälte sind daher Doktoren.
Nicht zuletzt wegen der geringen Zahl von Dissertationen fehlt es in vielen Rechtsgebieten an wissenschaftlicher Forschung – generell publizieren finnische Anwälte weniger als viele ihrer deutschen Kollegen. In der hiesigen Auslegungstradition haben denn auch Gesetzesbegründungen eine enorme Bedeutung, die klassische Methodenlehre spielt daneben kaum eine Rolle. Lehrbücher beschränken sich oft auf die fast wörtliche Wiedergabe von Regierungsvorlagen, daneben finden sich höchstens noch unkommentierte Kurzdarstellungen von Gerichtsentscheidungen. Fundierte Untersuchungen und sorgfältig herausgearbeitete abweichende Ansichten gibt es selten.
Auch in der juristischen Praxis ist oft eine gewisse Oberflächlichkeit der Argumentation bemerkbar. Vor allem fehlt es an jeglicher Systematik, selbst bei den höchsten Gerichten. Ist man deutsche Prüfungsschemata und den klaren systematischen Aufbau von Urteilen gewöhnt, kann das sehr irritierend ein. Andererseits ist das juristische Arbeiten freier und in vieler Hinsicht "ursprünglicher": Man muss weder streng dogmatisch vorgehen noch nach dem einen Urteil oder Zitat suchen, das die eigene Argumentation stützt – denn das gibt es oft gar nicht. Man argumentiert einfach.
Kein Anwaltsmonopol
In Finnland sind weder Rechtsberatung noch Prozessführung der Anwaltschaft vorbehalten. Wer nicht Rechtsanwalt ist, benötigt in Zivil- und Strafsachen allerdings in der Regel eine besondere Zulassung als Prozessvertreter. Einen Vertretungszwang wiederum kennt die finnischen Rechtstradition nicht, jeder kann sich vor Gericht also grundsätzlich selbst vertreten. Nur ganz ausnahmsweise braucht man in bestimmten Verfahren vor dem höchsten Zivil- und Strafgericht einen Vertreter. Ein Verfassungsgericht gibt es in Finnland übrigens nicht.
Das Anbieten von Rechtsberatung unterliegt keinerlei Beschränkungen – selbst Nichtjuristen dürfen rechtlich beraten. Auf dem finnischen Markt gibt es daher außer Rechtsanwälten allerlei Akteure. Wenn Juristen nicht Kammermitglied werden möchten, hat das meist vor allem haftungsrechtliche Gründe: Rechtsanwälte haften stets persönlich, unabhängig von der Rechtsform ihrer Kanzlei. Mittlerweile gibt es sogar Wirtschaftskanzleien, deren Mitarbeiter keine Anwaltszulassung haben, und die den alteingesessenen Anwaltssozietäten Konkurrenz machen.
Weder Drucker noch Fax oder Festnetz
Kaum verwunderlich ist daher, dass es in Finnland pro Kopf weit weniger Anwälte gibt als in Deutschland. Auf 5,6 Millionen Einwohner kamen im letzten Jahr 2.400 Rechtsanwälte. Von diesen arbeitet ein Drittel in Kanzleien mit lediglich ein oder zwei Anwälten, ein weiteres Drittel wiederum in den zehn größten Sozietäten, die sich allesamt im Zentrum von Helsinki im Umkreis von wenigen hundert Metern finden. Bei den Neuzulassungen machen Frauen seit Jahren deutlich mehr als die Hälfte aus – 2024 waren es 62 Prozent. Die meisten Anwaltskanzleien – ob Einzelanwälte oder Sozietäten – sind Aktiengesellschaften. Holding-Modelle sind weit verbreitet, weil mit ihrer Hilfe Steuern vermieden werden können.
Finnen sind sehr technologieaffin. Faxgeräte und -nummern gibt es schon seit Ewigkeiten nicht mehr, und auch Festnetzanschlüsse nicht. Schriftsätze werden ausschließlich per E-Mail eingereicht, und seit einiger Zeit empfiehlt die Anwaltskammer offiziell Clouds statt lokalen Servern als Speichermedium. Zumindest in größeren Kanzleien wird viel KI eingesetzt, deren Entwicklung eher mit Interesse als mit Argwohn verfolgt wird.
Hohe Stundensätze, moderate Gehälter
Die Vergütungssätze von Rechtsanwälten sind in Finnland in keiner Weise vorgeschrieben und ein derart detaillierter Kodex wie das Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (RVG) samt zugehöriger Literatur und Rechtsprechung wäre hierzulande undenkbar. Gelegentlich werden mit Mandanten Pauschalen, meist aber Stundensätze vereinbart. Die variieren erheblich – in kleineren Kanzleien liegen sie meist zwischen 200 und 350 Euro, in Wirtschaftskanzleien reicht die Spanne von unter 300 bis über 800 Euro. Der Prozesskostenhilfe-Stundensatz beträgt 120 Euro, was die allermeisten Anwälte für viel zu niedrig halten.
Horrende Anwaltskosten sind in Finnland an der Tagesordnung. Gerade ging eine Verbraucherschutzsache durch die Presse, in der ein Rentner einen Energieversorger verklagt hat – Streitwert 606 Euro. Eine bekannte Helsinkier Sozietät vertritt das kommunale Unternehmen und hat im Prozess bisher 670.000 Euro (netto) Anwaltskosten geltend gemacht – laut Rechnung sind 1940 Stunden à 345 Euro angefallen.
Die Gehälter angestellter Rechtsanwälte sind im internationalen Vergleich dennoch eher moderat, vor allem bei großen Kanzleien. Typischerweise verdient man in Finnland auf Senior-Ebene das, was man in Deutschland oder England als Einsteiger bekommt – wobei man meist aber auch weniger arbeitet. Nach einer Erhebung des Juristenverbandes betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Juristen letztes Jahr 42,1 Stunden. Besonders aussagekräftig ist das indes nicht – die Arbeitszeiten variieren enorm, bei Anwälten je nach Praxisgruppe auch innerhalb derselben Kanzlei. Berufseinsteiger verdienen jedoch recht ordentlich – die meisten Kanzleien halten sich an die Empfehlung des Juristenverbandes, derzeit 4.840 Euro für Absolventen. Der Median-Monatslohn aller Juristen im Privatsektor betrug im letzten Jahr 6.400 Euro (ohne Boni). Übrigens gibt es in Finnland kein Steuergeheimnis. Jeder kann das Einkommen seines Nachbarn, eines Kollegen oder eines Konkurrenten – oder von wem auch immer – beim Finanzamt einsehen oder sogar am Telefon erfragen.
Der Frauenanteil in Kanzleien ist hoch – wegen des im Vergleich zu Deutschland sehr fortschrittlichen Kinderbetreuungssystems kehren junge Mütter in der Regel spätestens ein Jahr nach der Geburt des Nachwuchses an den Arbeitsplatz zurück, gelegentlich sogar früher. Nach wie vor sind Frauen in Anwaltskanzleien aber auf Partnerebene unterrepräsentiert – es liegt also beim Thema "Gleichberechtigung" auch in Finnland noch einiges im Argen.
Freizeit zählt
Eine Präsenzkultur gibt es an finnischen Arbeitsplätzen nicht – niemand bleibt möglichst lang im Büro, um zu zeigen, wie fleißig er ist. Man möchte bei der Arbeit möglichst effektiv sein, um am Nachmittag – wohlgemerkt nicht erst am Abend – so bald wie möglich nach Hause gehen zu können und Zeit für die Familie und Hobbies zu haben. Ganz allgemein gilt in Finnland "Mehr Sein als Schein" – man nimmt sich selbst nicht so wichtig und achtet andere. Vielleicht ist es die Lage Finnlands weit im Norden, an der Peripherie der Welt, die eine gewisse Demut lehrt.
Markus Majer studierte Rechtswissenschaften in Passau, Toledo (Spanien) und Freiburg im Breisgau. Nach dem Referendariat arbeitete er als Rechtsanwalt in Berlin, bevor er im Jahre 2011 in sein zweites Heimatland Finnland zog. Dort leitete er zunächst die Rechtsabteilung der Deutsch-Finnischen Handelskammer, war dann für die internationale Sozietät Bird & Bird tätig und ist seit 2023 selbständiger Rechtsanwalt in Helsinki mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht. Er hat die finnische Anerkennungsprüfung für ausländische Juristen sowie die Rechtsanwaltsprüfung abgelegt.
Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
Ausland
Verwandte Themen:- Ausland
- Anwaltsberuf
- Karriere
- Europa
Teilen