Die ehemalige Großkanzlei-Anwältin Felicitas Kapp kehrt in den Anwaltsberuf zurück. Foto:Lucas Körner
"Es entsteht das Bild, dass Anwälte immer 130 Prozent geben müssen"
LTO: Vor mittlerweile vier Jahren haben Sie Ihren Job als M&A-Anwältin in einer Großkanzlei aufgegeben und sich als Coach für Juristen selbstständig gemacht. Seit kurzem arbeiten Sie nebenbei wieder als Anwältin. Haben Sie die Juristerei so sehr vermisst?
Felicitas Kapp: Nein, es war keine nostalgische Rückkehr. Es war eine bewusste Entscheidung. Jura ist – neben dem Coaching – ein Teil von mir. Das habe ich über die Zeit erkannt. Aber ich wollte es nicht mehr so leben, wie es in der Großkanzlei üblich war. Heute gestalte ich den Beruf so, dass er zu mir passt: mit Klarheit, Freiheit und in Verbindung mit den Menschen, für die ich arbeite.
Nach meiner Kündigung im Jahr 2021 habe ich gesagt, dass ich nicht mehr als Anwältin arbeiten möchte. Damals dachte ich, dass Jura einfach nicht zu mir und meinen Werten passt. Heute weiß ich: Nicht Jura ist das Problem, sondern wie wir den Beruf leben. Deshalb habe ich mich oft gefragt, ob die Vorstellungen, wie Anwälte arbeiten müssen, wirklich in Stein gemeißelt sind.
"Arbeiten bis zur Erschöpfung wird als Einsatz gefeiert"
Welche Vorstellungen meinen Sie?
In vielen Großkanzleien entsteht das Bild, man müsse dauerhaft 130 Prozent geben – hart, tough, immer verfügbar. Menschliche Bedürfnisse, wie Pausen oder ein Ausgleich (z.B. durch Sport oder einfach nur mal Zeit für sich), werden schnell als Schwäche ausgelegt, während Arbeiten bis zur Erschöpfung als Einsatz gefeiert wird. Das erzeugt Druck und Entfremdung. Dieses Rollenbild vermittelt, dass man immer mehr geben muss, um als stark zu gelten. Zeigt man sich dagegen menschlich, wird das als Schwäche angesehen.
Das verunsichert insbesondere unerfahrene Berufseinsteiger, die ohnehin schon Angst davor haben, Fehler zu machen.
Ja. Sie wollen alles richtig machen, sind ohnehin perfektionistisch, machen wenig Pausen und dann kommt noch das Kanzleiumfeld dazu, das das Ganze noch befeuert. Viele Anwälte haben Angst, dass es sich negativ auf ihre Karriere auswirkt, wenn sie ihre Bedürfnisse ernst nehmen und Grenzen aufzeigen. Das führt dazu, dass man immer mehr in die Selbstverleugnung geht.
"In der Großkanzlei habe ich lange an mir vorbeigelebt"
Auch Sie haben sich damals von sich selbst entfremdet – bis hin zum Burnout. Das haben Sie aber erst viel später gemerkt, wie Sie in unserem ersten Interview offen und ehrlich erzählt haben. Was machen Sie jetzt anders, damit es nicht mehr so weit kommt?
In der Großkanzlei habe ich mich einer Rolle angepasst, die mich von mir selbst entfremdet hat. Ich habe an mir vorbeigelebt. Der Burnout war für mich ein Bruch, ein Stopp-Signal. Entscheidend ist, was sich daraus entwickelt hat. Ich habe verstanden, dass ich mein Leben nicht mehr gegen mich leben darf, sondern mit mir. Heute weiß ich viel klarer, wer ich bin, was mir wichtig ist, und wie ich arbeiten möchte.
Jetzt gestalte ich bewusst ein Berufsleben, das meine ganze Persönlichkeit einschließt: die Juristin, die Coachin, die Frau, die Begegnungen liebt und Vielfalt braucht.
Je mehr ich mir erlaube, meine Facetten zu leben und selbst zu bestimmen, desto stärker und authentischer trete ich auf – als Mensch und als Anwältin. Deshalb ist Arbeit kein Gegensatz zum Leben, sondern Teil davon.
"Wenn man einmal die vermeintlichen Regeln sprengt, wird vieles möglich"
Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?
Ich bin weiterhin selbstständig als Coach, das macht den Hauptteil meiner Arbeit aus. Aber ich habe die juristische Arbeit bewusst wieder aufgenommen. Allerdings nicht wie früher in einer Großkanzlei im M&A oder einem anderen starren Kanzleigefüge, sondern als selbstständige Anwältin in freier Mitarbeit – u.a. in einer Wirtschaftskanzlei im Gesellschaftsrecht. Dort kann ich meine Erfahrungen aus dem Coaching einbringen. Durch diese Kombination ist die Kanzlei auf mich aufmerksam geworden und möchte, dass ich die juristische Sprache für die Mandanten "übersetze". Es geht also um die Verbindung des Juristischen mit dem Blick auf den Mandanten.
Zusätzlich haben Sie auch ein neues Rechtsgebiet für sich entdeckt.
Ja. Als ich ehrlich zu mir selbst war, habe ich gemerkt, dass ich mich immer schon für das Strafrecht interessiert habe – also etwas komplett anderes. Besonders reizt mich die Komplexität zwischen Psyche und Recht. Ich erlebe gerade, ganz unterschiedliche Rechtsgebiete zu vereinen. Seit einigen Wochen bin ich zusätzlich als Rechtsanwältin in freier Mitarbeit in einer Strafrechtskanzlei. Ich bin gespannt, wie sich alles weiter entwickeln wird. Für mich gilt: Wenn man einmal die vermeintlichen Regeln sprengt, wird vieles möglich. Und genau das möchte ich jungen Juristen auch zeigen.
"Ich kann besser selbst steuern, was ich wann mache"
Coaching, Anwältin in einer Wirtschaftskanzlei und in einer Strafrechtskanzlei – das klingt erstmal nicht so, als hätten Sie jetzt weniger Stress als vorher.
Im Gegenteil. Es ist gerade die Mischung, die ich schätze. Coachings, Mandanten, kreative Arbeit, Struktur. Wenn ich zwei, drei Coachings hatte, freue ich mich auf juristische Arbeit – und umgekehrt. Jede Facette fordert mich auf eine andere Weise heraus. Der Unterschied ist, dass ich besser selbst steuern kann, was ich wann mache. Natürlich gibt es Phasen, in denen alles auf einmal kommt, aber mittlerweile weiß ich, wie man damit umgeht.
Viele glauben, sie müssten sich entscheiden: raus aus Jura oder ganz drinbleiben. Ich sehe das anders: Es ist möglich, ein eigenes, individuelles Lebenskonzept zu schaffen – und darin mehrere Facetten zu vereinen. Es geht nicht um weniger arbeiten, sondern um anders arbeiten: selbstbestimmt statt fremdbestimmt, im Einklang mit der eigenen Persönlichkeit und seinen Werten.
"Wer offen sagt, 'ich kann nicht mehr', zeigt Mut"
Viele, die sich trauen, ihre enorme Belastung bei Ihrem Arbeitgeber anzusprechen, hören dann den Satz "Reiß Dich zusammen". Was würden Sie darauf entgegnen?
Ich müsste mich dann selbst zusammenreißen, nicht unfreundlich zu werden. Ich finde es einfach traurig. Die Menschen sind ja bereits an einem Punkt, an dem sie feststellen, dass sie nicht mehr können. Das ist für viele ein großer Schritt, sich einzugestehen, dass man seine Grenze erreicht hat. Und in der High-Performer-Welt denkt man dann als erstes, man hat versagt. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wer offen sagt, "ich kann nicht mehr", zeigt Mut. Deswegen braucht dieses Thema viel Sensibilität. Wenn man den Mut hatte, das anzusprechen und dann zu hören bekommt, man solle sich zusammenreißen, wird man in seinem Bild bestärkt und es wird sich nichts ändern.
Was braucht es aus Ihrer Sicht von den Kanzleien?
Es braucht gute Vorbilder, die vorleben, dass es auch anders geht. Partner und Führungskräfte, die sich menschlich zeigen und offen kommunizieren, dass auch sie ihre Grenzen haben und wie sie damit umgehen. Mit dieser Offenheit gibt man den Anwälten den Raum, sich dazu zu äußern und sich auch "verletzlich" zu zeigen, ohne dass man in eine unangenehme Situation kommt. Dieses Vorbild ist stärker als jede Policy.
Dazu kommt Vertrauen statt Kontrolle. Wenn Kanzleien ständig alles kontrollieren und überwachen, Homeoffice etwa nur in Ausnahmefällen möglich ist, führt das zu Frustration. Wenn Kanzleien dagegen ihren Anwälten vertrauen, sind diese auch eher bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich einzubringen. Arbeitszeiten von neun bis 17 Uhr sind in der Kanzleiwelt illusorisch. Aber wenn es für die Anwälte möglich ist, ihre Bedürfnisse abzudecken, etwa mal zum Sport oder sich einfach mal Zeit für sich zu nehmen, macht das viel aus. Viele fühlen sich fremdbestimmt bei einem Beruf, in dem man eigentlich ganz viele Freiheiten haben könnte.
"Es muss nicht immer der radikale Jobwechsel sein"
Welche weiteren Tipps haben Sie zum Thema mentale Gesundheit?
Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass man immer in einem guten Kontakt mit sich selbst ist, authentisch ist und sich selbst treu bleibt. In diesem sehr schnelllebigen Alltag sind wir mit unseren Antennen sofort im Außen, also wir versuchen sofort, die Situation zu managen, den Erwartungen gerecht zu werden und unsere Arbeit zu erledigen. Das ist gefährlich, weil man sich selbst dabei komplett aus dem Blick verliert. Man sollte immer darauf achten, wie es einem selbst geht und was man gerade braucht, denn die Frage stellt einem ja keiner. Und es muss nicht immer der radikale Jobwechsel sein. Manchmal reicht es, wenn man an einigen Stellschrauben dreht. Und – das habe ich für mich erst nach und nach verstanden – es hat einen großen Einfluss, sein Nervensystem zu regulieren.
Wie meinen Sie das?
Bei viel Druck und Stress schaltet das eigene System in den sogenannten "Fight-or-Flight"-Modus, also in eine Situation, in der der Körper alarmiert ist, von einer Gefahr ausgeht und dementsprechend reagiert. Man ist angespannt, schläft schlechter und kommt nicht mehr zur Ruhe. Das Nervensystem reagiert auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise mit Kopfschmerzen bis hin zu Panikattacken – Warnsignale, dass etwas nicht stimmt und die ernst genommen werden müssen. Viele ignorieren diese Zeichen, weil sie glauben, keine Zeit zu haben. Dabei gewinnt man Zeit, wenn man innehält: Wer das Nervensystem beruhigt, kommt wieder ins klare Denken und macht weniger Fehler. Mentale Gesundheit heißt nicht, keinen Stress zu haben – sondern bewusst wahrzunehmen, wann ich im "schnell, schnell, schnell" und wann ich entspannt bin. Genau dieses Bewusstsein macht den Unterschied.
Wenn wir jetzt nochmal zu Ihnen persönlich zurückkommen: Wenn Sie heute noch mal als Anwältin in der Großkanzlei anfangen würden, was würden Sie dann anders machen?
Ob ich heute noch einmal in einer Großkanzlei anfangen würde, ist offen. Klar ist: Ich würde nie wieder blind ein Rollenbild übernehmen, das mich von mir selbst entfernt. Wenn ich damals schon verstanden hätte, dass man authentisch und erfolgreich zugleich sein kann, hätte ich vieles leichter genommen. Dieses Wissen – dass ich mein Berufsleben selbst gestalten darf, statt mich formen zu lassen – hätte einiges verändert.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg!
Felicitas Kapp war zwei Jahre Anwältin in einer Großkanzlei. Seit Oktober 2021 arbeitet sie als Zertifizierter Business, Mindset und Team Coach. Sie coacht vor allem Anwältinnen und Anwälte und gibt u.a. Workshops zur mentalen Gesundheit in Kanzleien. Seit März 2025 arbeitet sie zudem als selbstständige Anwältin.
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