Ex-Großkanzleianwältin besiegt den Krebs

"Nach der Diag­nose erstmal einen Schrift­satz fertig gemacht"

Interview von Dr. Franziska KringLesedauer: 7 Minuten

Julia Gottinger war Anwältin in einer Großkanzlei, als sie die Diagnose Brustkrebs bekam. Im Interview erzählt sie, wie sie damit umgegangen ist und wie sie nach der Erkrankung ihr Leben umgekrempelt hat.

LTO: Frau Gottinger, Sie waren erfolgreiche Anwältin in einer Großkanzlei – und haben dann vor fünf Jahren, mit 31, die Diagnose Brustkrebs bekommen. Wie geht man mit so einer Nachricht um?

Julia Gottinger: Mein erster Gedanke war: Dafür habe ich keine Zeit. Ich habe die Diagnose am Telefon bekommen, als ich in der Kanzlei war. Das war in der ersten Woche des Corona-Lockdowns, die Welt stand still, aber im Arbeitsrecht war so viel los. An dem Tag lief eine Frist ab und den Schriftsatz habe ich noch zwischen Diagnose und MRT fertiggestellt.

Schnell war klar, dass ich eine Chemotherapie brauche. Da habe ich zum ersten Mal wirklich begriffen, dass die Lage ernst ist. Nachdem ich gemerkt habe, dass ich meine Chemotherapie ganz gut vertrage, habe ich auch wieder angefangen, zu arbeiten. Allerdings nicht in dem Ausmaß wie früher und auch mit viel weniger Druck, ich war auf keinen großen Projekten mehr. Ich war dann nur jeweils am Tag der Chemotherapie und am nächsten Tag krankgeschrieben. 

Wieso haben Sie sich nicht so lange krankschreiben lassen, wie es vielleicht nötig gewesen wäre?

Das ist mir tatsächlich erst rückblickend klar geworden: Ich habe Ablenkung in der Arbeit gesucht, damit ich nicht mit mir und meinen Gedanken allein bin. Niemand hat von mir verlangt, dass ich arbeite, sondern ich wollte es so. Es hat mir auch ein bisschen Selbstwert gegeben, dass ich nicht "nur" eine Krebspatientin war, sondern noch etwas leisten konnte und das Vertrauen bekommen habe. Das sage ich nicht, um als besonders stark oder leistungsfähig zu gelten. Zu diesem Zeitpunkt war ich einfach noch nicht bereit, mich mit mir und meiner Erkrankung auseinanderzusetzen. 

Aber die Situation war skurril. Es waren ja alle im Homeoffice und ich hatte meinen Laptop und meinen Bildschirm auf meinem Küchentisch aufgebaut. Am Stuhl neben mir hing meine Perücke. Die habe ich für Termine angezogen, damit kein Mandant gesehen hat, dass ich krank war. Meine Kollegen wussten natürlich Bescheid, aber die Mandanten nicht.

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"Krebspatientin zu sein, ist ein Vollzeitjob"

Irgendwann kam dann aber der Punkt, an dem es so nicht mehr weiterging.

Ja. Ich habe insgesamt 16 Chemotherapien bekommen und irgendwann wird der Körper immer schwächer. Die letzten zwölf Chemotherapien haben wöchentlich stattgefunden, ich war deshalb ständig müde. Krebspatientin zu sein, ist ein Vollzeitjob. Allein 2020 hatte ich über 80 Arzttermine. Irgendwann musste ich mich entscheiden, ob ich weiterhin die Kraft, die ich noch habe, zum Arbeiten nutzen will, oder, um gesund zu werden und zu leben. Ich habe mich dann Ende Juli 2020 "richtig" krankgemeldet und mir eingestanden, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Das war ein wichtiger Schritt auf meinem Heilungsweg.

Letztlich haben Sie den Brustkrebs besiegt. Inwiefern sind Sie persönlich an dieser schweren Zeit, die Sie gemeistert haben, gewachsen?

In jeder Hinsicht. Ich habe gelernt, für mich selbst einzustehen. Ich war vorher eine typische Ja-Sagerin – und auf einmal war ich eine Hochrisikopatientin. Durch die Chemotherapie wird das komplette Immunsystem runtergefahren. Jeder potenzielle Infekt war für mich lebensgefährlich, deshalb musste mein Umfeld Rücksicht auf mich nehmen. Das habe ich klar kommuniziert, auch wenn es mir anfangs echt schwerfiel, mich so verletzlich zu zeigen. 

So habe ich gelernt, auch im Beruf klare Grenzen zu ziehen. Früher ging mein erster Blick morgens und mein letzter Blick abends in mein Mail-Postfach. Nach meiner Erkrankung habe ich meine Erreichbarkeit kommuniziert und realistische Deadlines gesetzt, die keine Nachtschichten mehr erforderten. Als Anwältin will man alles innerhalb kürzester Zeit möglich machen, obwohl das manchmal gar nicht notwendig ist. Ich habe gelernt, Entscheidungen für meine Gesundheit und meine Zufriedenheit im Leben zu treffen.

"Schnell gemerkt, dass ich Menschen auf ihrem Weg begleiten möchte"

Zum Beispiel haben Sie auch die Entscheidung getroffen, aus der Großkanzlei auszusteigen.

Ja, das war ein längerer Prozess. In der Reha hatte ich meine ersten Berührungspunkte mit den Themen Achtsamkeit, Coaching und Meditation. Damit konnte ich davor gar nichts anfangen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie ich leben und arbeiten möchte. Ich habe schnell gemerkt, dass ich Menschen auf ihrem Weg begleiten möchte. Und dann habe ich – erstmal parallel zur Wiedereingliederung in der Kanzlei – eine systemische Coaching-Ausbildung gemacht. Nach dem zweiten Modul war mir aber klar, dass ich einen anderen Weg einschlagen möchte. Dann habe ich gekündigt und anderthalb Jahre als Arbeitsrechtlerin in einem Unternehmen gearbeitet. Parallel dazu habe ich mir meine Selbstständigkeit aufgebaut.

Jetzt sind Sie Atemtrainerin und Stressmanagement-Coach. Wie sind Sie dazu gekommen?

Nach meiner Erkrankung habe ich eine Therapie gemacht und in unterschiedlichen Coachings über drei Jahre an mir selbst und an meinen Mustern und Glaubenssätzen gearbeitet. Irgendwann war ich an dem Punkt, an dem ich gemerkt habe, dass mein Kopf es begriffen hat, aber der Körper nicht hinterherkam. Ich bin immer wieder in alte Stressmuster verfallen. Ich wollte etwas für meinen Körper tun und bin dann auf den Atem gestoßen. Ich habe eine einjährige Ausbildung zur Atemtrainerin gemacht – erstmal eigentlich nur für mich persönlich, um an stressigen Tagen runterzukommen. Dann habe ich aber schnell erkannt, dass es sozusagen "unterlassene Hilfeleistung" wäre, wenn ich mein Wissen nicht an andere Menschen weitergebe. 

"So, wie wir atmen, leben wir"

Inwiefern beeinflusst der Atem unser Wohlbefinden?

Der Atem ist die "Fernbedienung für unser Nervensystem". Wir atmen ungefähr 22.000-mal am Tag, das sind acht Millionen Atemzüge pro Jahr. So, wie wir atmen, leben wir. Der Atem ist Teil unseres autonomen Nervensystems, das heißt, man atmet, ohne dass man darüber nachdenkt. Gleichzeitig ist der Atem der einzige Teil des autonomen Nervensystems, den man – anders als beispielsweise das Herz – selbst steuern kann. Durch das Atmen beeinflussen wir unseren Herzschlag, unser Gehirn oder unsere Verdauung. Wenn wir gestresst sind, merken wir das schnell an unserer Verdauung. Der Atem reguliert, wie entspannt oder gestresst wir gerade sind und wie schnell wir uns aus stressigen Phasen erholen. Das Ziel ist es nicht, keinen Stress zu haben, das wäre utopisch. Das Ziel ist es, uns schnell wieder selbst regulieren zu können.

Wie kann man sich so ein Atemtraining vorstellen?

Es ist eine Mischung aus Coaching und Atemtraining. Beides ergänzt sich gegenseitig. Viele meiner Klientinnen sind Juristinnen – weil sie wissen, dass ich verstehe, unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Wir machen Entspannungs- und Atemübungen, die aufeinander aufbauen, und die Teilnehmerinnen lernen ihre Stressmuster und Glaubenssätze kennen, an denen wir arbeiten. Außerdem bekommen sie Selbstlernvideos, zum Beispiel zum gesunden Schlaf oder zum Nervensystem.

 Eine wichtige Frage, die ich meinen Klientinnen immer stelle, ist, was sie denn eigentlich machen, wenn sie keinen Stress haben. Das hört sich so banal an, aber das ist eine sehr wichtige Frage. Denn wenn man nicht weiß, was man mit seiner Zeit eigentlich anfangen will, fällt man immer wieder in alte Muster zurück und flieht in die Arbeit. Das ist manchmal gar nicht so leicht, denn über die Zeit frisst der Stress die Hobbies auf.

"Eine Kündigung löst nicht alle Probleme"

Viele Anwältinnen und Anwälte sind tatsächlich im Dauerstress. Woran liegt das?

Natürlich arbeiten Anwältinnen und Anwälte oft zu viel und darauf ist das System der Kanzleien auch ausgelegt. Aber: Jeder hat selbst die Wahl, ob er da drinbleibt oder nicht. Allerdings löst eine Kündigung ja nicht alle Probleme, denn man nimmt sich selbst und seine ganzen Lebensmuster überall mit hin, auch in einen neuen Job.

Diese Themen sollte man angehen, um sich eine gute Arbeitsumgebung zu schaffen, in der man gesund bleiben kann. Gerade Perfektionismus, der bei Frauen häufiger vorkommt als bei Männern, kostet viel Zeit und führt dazu, dass man dauerhaft gestresst ist. Wenn man sich eine Stunde für eine Aufgabe blockt, dann aber an jedem Punkt, jedem Komma und jeder Formulierung rumüberlegt, sprengt man schnell den Zeitrahmen und kann alle seine Vorgaben nicht mehr einhalten. Natürlich ist es im anwaltlichen Beruf wichtig, genau zu arbeiten, gleichzeitig dürfen wir in bestimmten Fällen unseren Perfektionismus aber auch mal hintenanstehen lassen. 

"Vor 10 Uhr nehme ich keine Termine an"

Was machen Sie jetzt, um zu vermeiden, dass Sie dauerhaft im Stress sind? 

Schon als ich zwischenzeitlich im Unternehmen gearbeitet habe, habe ich mir eine intensive Morgenroutine angewöhnt. Ich weiß, wie wichtig es ist, gut in den Tag zu starten und wie motiviert, konzentriert und fokussiert ich danach arbeite. Ich trinke morgens erstmal Wasser mit Zitrone, komme entspannt im Tag an, und mache Atemübungen. Die Übungen wähle ich jeden Tag neu aus, je nachdem, wie hoch mein Stresslevel ist. 

Und ich habe mir angewöhnt, erst ab einer bestimmten Zeit erreichbar zu sein, weil ich morgens einfach produktiver bin und Dinge abarbeiten kann. Deshalb nehme ich vor 10 Uhr keine Termine an. Da ich genau weiß, weshalb ich das mache, fällt es mir dabei auch leicht, Nein zu sagen. Abends ist es für mich sehr wichtig, meinen nächsten Tag zu planen. Ich setze mich dann nochmal hin und überlege, was ich geschafft habe und was ich mir für den nächsten Tag vornehme. Dann nehme ich diese Gedanken nicht mit ins Bett. Und morgen muss ich dann nicht erstmal überlegen, was ich als erstes mache. Das frisst viel Energie, die ich schon produktiv nutzen könnte. 

Welche abschließenden Tipps haben Sie noch, um besser mit dem Stress umzugehen?

Man sollte sich erstmal ein Bewusstsein für Stress schaffen. Sich also bewusstwerden, was eigentlich die eigenen Stressoren sind – in der Regel ist das weit mehr als der Job. Ganz oft machen wir uns in unserer Freizeit zusätzlichen Stress und wollen es allen recht machen. Diese Stressoren muss man dann angehen. Im nächsten Schritt sollte man Zeitinseln schaffen für kurze Entspannungspausen. 

In akuten Stresssituationen hilft das Wissen, dass 90 Sekunden bewusstes Atmen durch die Nase das Stresslevel schon merklich reduzieren. Viele denken ja, man muss jetzt dem 5-Am-Club beitreten, also um fünf Uhr aufstehen, um gesunde Routinen zu haben. Aber schon ein kurzer Reset hilft. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Julia Gottinger war insgesamt 4,5 Jahre Anwältin in einer Großkanzlei. Im März 2020 erhielt sie die Diagnose Brustkrebs. Jetzt arbeitet sie als Atemtrainerin und Stressmanagement-Coach. Ihr Kurs "Stressless Success" startet wieder am 6. März 2025.

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