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"Der Tätowierer haftet nicht für Rechtschreibfehler"
TO: Sie sind seit vielen Jahren Tätowiererin – und begutachten als gerichtliche Sachverständige Tätowierungen. Wie kam es dazu?
Fauve Lex: Tätowiererin bin ich seit 2017. Die Kunden haben schnell gesehen, dass ich nicht einfach Motive aus dem Internet kopiere, sondern die Bilder nur als Anregungen sehe und dann ein Motiv mit meinem eigenen Stil entwickele. Mir war anfangs gar nicht bewusst, warum das eine Rarität ist, für mich war das selbstverständlich. Dann wurde ich selbst bestohlen und habe mich geärgert, dass andere Tätowierer mit meiner Kunst Geld verdienen.
Danach habe ich mich informiert, wo wir als Tätowierer stehen, ob es beispielsweise eine Kammer gibt und wie wir unsere Rechte geltend machen können. Ich fand das sehr spannend und habe mich immer mehr eingelesen. Dann hat mich jemand auf die Idee gebracht, als Sachverständige Tattoos zu begutachten und so die Branche zu unterstützen.
Wie wird man denn Sachverständige für Tattoos?
Grundsätzlich bedarf es dafür jahrelanger Berufserfahrung. Da Tätowierer aber kein staatlich anerkannter Beruf ist, war es mir wichtig, zusätzlich ein Zertifikat in der Hand zu haben. Deshalb habe ich eineinhalb Jahre lang ein berufsbegleitendes Fernstudium zur gerichtlichen Sachverständigen gemacht. Da ging es darum, welche Aufgaben man als Sachverständige hat, wie man sich in den Gerichtsverhandlungen verhält und welche Grundanforderungen die Gutachten erfüllen müssen. Für mich war das sehr herausfordernd, ich habe nicht studiert und hatte vorher einen "kleineren" Schulweg. In den ersten Wochen kam mir das Juristendeutsch vor wie Chinesisch. Ich habe anfangs nichts verstanden, mich dann aber durchgekämpft und es geschafft. Seit einem halben Jahr bin ich offiziell mit dem Studium fertig, aber Aufträge hatte ich schon vorher.
Gerichtliche Sachverständige für Tätowierungen gibt es wahrscheinlich nicht viele.
Es gibt gar nicht so wenige, aber über das Thema wird nicht oft gesprochen oder meine Funktion verstanden. Viele Kollegen aus der Szene oder Kunden verwechseln mich auch mit einer Rechtsberatung. Ich kann ihnen natürlich sagen, wo sie sich informieren können und was die nächsten Schritte wären. Aber wenn sie mich fragen, wie gut die Chancen für Schadensersatz stehen, verweise ich sie an Anwälte.
"Ich muss nicht die Bedeutung eines Motivs überprüfen"
Fälle wie ein nicht gewolltes "Fuck"-Tattoo auf der Stirn sind ziemlich eindeutig. Ansonsten ist es Geschmacksache, ob ein Tattoo gefällt oder nicht. Aber wann kann aus einer Tätowierung ein Haftungsfall werden?
Eine Tätowierung ist grundsätzlich eine Körperverletzung, aber der Kunde unterschreibt im Vorfeld eine Einverständniserklärung und willigt damit ein. Auch zivilrechtlich bestehen damit erstmal keine Ansprüche, wenn der Tätowierer den Kunden ausreichend aufgeklärt und handwerklich sauber und den Wünschen des Kunden entsprechend gearbeitet hat. Bei rechtsextremen Motiven muss man aber schon genauer hinschauen.
Wenn der Tätowierer aber unsauber gearbeitet hat und sich das Tattoo entzündet und vernarbt, muss er Schadensersatz und unter Umständen auch Schmerzensgeld zahlen.
Wer haftet, wenn ich unbedingt die chinesischen Zeichen für "Liebe" tätowiert haben möchte, im Endeffekt dann aber etwas ganz Anderes meinen Oberarm ziert?
Die meisten denken, bei solchen Rechtschreibfehlern würde der Tätowierer haften. Wenn der Kunde mir aber ein Motiv vorlegt, muss ich vorher nicht überprüfen, ob die Bedeutung auch wirklich stimmt oder der Wortwitz korrekt wiedergegeben wird. Bevor das Motiv gestochen wird, bekommt der Kunde ein Stencil, also eine Blaupause, und sieht dann, wie das Tattoo auf der Haut aussieht. Auch da kann er nochmal überprüfen, ob das Wort so stimmt. Wenn ich das so tätowiere, wie der Kunde es abgenommen hat, hafte ich nicht.
"Ein realistisches Porträt auf der Fußsohle ist nicht möglich"
Welche Aufgabe haben Sie als gerichtliche Sachverständige?
Mein Part ist es, zu übersetzen. Ich muss den Richtern erklären, was genau schiefgelaufen ist und ob das hätte vermieden werden können.
Zuerst verfasse ich mein Gutachten zur jeweiligen Frage. Meist bin ich aber auch bei der mündlichen Verhandlung dabei. In vielen Fällen kochen die Emotionen im Vorfeld hoch, aber wenn man dann nochmal ruhig und sachlich über alles spricht, beruhigen sich alle oft wieder.
Was sind die typischen Fälle, mit denen Sie vor Gericht zu tun haben?
Dermatologische Fälle, also etwa vernarbte Tattoos, landen oft bei mir. In den meisten Fällen geht es aber um ästhetische Mängel, wenn die Erwartungen des Kunden nicht erfüllt wurden. Der Kunde möchte das Tattoo entweder gelasert oder gecovert haben und verlangt den Ersatz der Kosten. Ich muss dann die Anforderungen und das fertige Tattoo miteinander vergleichen. Es geht auch darum, ob es überhaupt möglich war, die Wünsche des Kunden zu erfüllen. Ein realistisches Porträt in einer winzigen Größe auf der Fußsohle beispielsweise ist nicht möglich. Dann muss der Tätowierer dem Kunden aber auch im Vorfeld sagen, dass er den konkreten Wunsch nicht erfüllen kann.
In einem Fall hatte der Tätowierer klar kommuniziert, dass er noch nie in einem bestimmten Stil gearbeitet hat. Der Kunde hat sich aber trotzdem darauf eingelassen – und sich dann gewundert, dass es nicht so geworden ist wie bei einem Profi für diese Stilrichtung. Da kann der Tätowierer nichts für.
Urheberrechtliche Fälle, also Tattoo-Fälschungen, mache ich nicht oft. Wenn man die beiden Motive nebeneinanderlegt, sieht man ja deutlich, ob es eine Fälschung ist. Dafür braucht man in der Regel keinen Gutachter.
"70 Prozent aller Tattoos werden einfach kopiert"
Was ist denn eigentlich eine Tattoo-Fälschung?
Tattoo-Fälschungen, bei uns nennt man sie auch Copy Cats, sind Motive, die ein Tätowierer zum Beispiel bei Pinterest oder Instagram sieht und unerlaubterweise als Quelle seiner Motive verwendet. Das passiert häufiger, als man denkt – ich würde sogar sagen, 70 Prozent aller Tattoos werden einfach kopiert. Die Tätowierer wissen oft nicht, dass das Urheberrechtsverletzungen sind. Nicht viele Tätowierer machen sich die Mühe, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Wenn ein Kunde mit einer Vorlage aus dem Internet kommt, muss der Tätowierer ihm eigentlich sagen, dass er das nicht genauso kopieren kann, sondern die Grundlinien abändern muss.
Gibt es einen Fall, der Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben ist?
In einem Fall hat ein Kunde einem Tätowierer ein KI-Bild gezeigt, auf dem ein Oberschenkel mit einem realistischen Porträt als Tattoo zu sehen war.
Der Tätowierer hat wahrscheinlich nicht gesehen, dass das eine KI-Arbeit ist und dass es unmöglich ist, ein Tattoo in dem Detailgrad auf den menschlichen Körper zu tätowieren. Die Haut ist immer noch ein Organ, das arbeitet. Als Sachverständige ist es meine Aufgabe, zu sagen, dass der Wunsch vollkommen unrealistisch war. Aber natürlich hätte das auch der Tätowierer sehen müssen. Im Endeffekt hat der Kunde das Tattoo nochmal bei einem Profi überarbeiten lassen und der erste Tätowierer hat einen Anteil der Kosten getragen.
"Viele trauen sich nicht, zu klagen"
Sie haben es schon angesprochen, Tätowierer ist kein Ausbildungsberuf, also theoretisch könnte jeder im Wohnzimmer ein Tattoostudio eröffnen. Wie oft kommt es tatsächlich vor, dass etwas schiefgeht?
Es passiert schon oft. Aber dass tatsächlich geklagt wird, kommt selten vor. Viele Kunden denken wohl, Tätowierer seien unnahbar und Klagen seien viel zu teuer und würden nichts bringen. Viele lassen sich das Tattoo erstmal von mir begutachten, um eine Tendenz zu haben, ob eine Klage sich lohnt. Natürlich gibt es auch Anwälte, die sich auf Tattoos spezialisiert haben, aber so verbreitet ist das noch nicht. Und wer bereit ist sich irgendwo im Wohnzimmer tätowieren zu lassen, landet dann vielleicht bei einem Familienrechtler, der den Fall trotzdem annimmt.
Es gibt tendenziell immer mehr Tattoostudios, deshalb passieren auch mehr Fehler. Einmal kam eine junge Frau zu mir, die mit ihrem Tätowierer unzufrieden war. Er hatte das Tätowieren im Gefängnis gelernt und sie in seinem Wohnzimmer tätowiert. Sie hat sich aber nicht getraut, sich bei ihm selbst zu beschweren. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen ihre Rechte wahrnehmen und sich nicht scheuen, bei Problemen mit einem Dienstleister klar Stellung zu beziehen, notfalls auch vor Gericht.
"Es geht nicht nur um kaputtblondierte Haare"
Weshalb?
Mir ist bewusst, dass die Gerichte ohnehin schon überlastet sind. Aber ich würde mir wünschen, dass Tätowierer bewusster damit umgehen, dass ein Tattoo eine Körperverletzung ist und schwere Folgen haben kann. Es geht hier nicht um kaputtblondierte Haare, die gesund nachwachsen können. Tattoos sind dauerhaft, und wenn etwas schiefläuft, wenn das Gewebe etwa vernarbt, bleiben die Schäden ein Leben lang. Teilweise belastet es die Personen auch psychisch sehr. Natürlich kann man auch lasern. Viele denken, dass dies das Tattoo einfach wegradiert. Das stimmt nicht. Es gibt Pigmente, die beim Lasern oxidieren, dann bleibt an der Hautstelle eine bräunlich-rostige Verfärbung zurück. Über solche Themen muss mehr gesprochen werden.
Was sollte sich aus Ihrer Sicht in der Branche noch ändern?
Ich würde mir wünschen, dass die Arbeit stärker reguliert wird, also dass eben nicht mehr jeder in seinem Wohnzimmer tätowieren kann. Es sollte zumindest eine Kammer geben, die die Berufsaufsicht führt.
"Schlimm finde ich Wörter, die man auch als Wandtattoos findet"
Noch eine Frage zum Schluss: Was ist für Sie ein schönes Tattoo – und welches Motiv halten Sie für das Generischste?
Da kommt es sehr auf den individuellen Geschmack an, genau wie bei Mode. Aber für mich ist ein Tattoo schön, wenn es zum Körper passt, ästhetisch aussieht und einfach das Gesamtbild harmonisch aussieht. Mein Stil ist Sketch Art, das sind Motive, die auf der Haut wie gezeichnet aussehen. Das gefällt auch nicht jedem. Es gibt viele Leute, die alle immer noch einen Löwen mit blauen Augen auf dem Oberarm haben wollen, weil gefühlt jeder Fußballer dieses Motiv hat. Das mache ich nicht.
Schlimm finde ich auch bestimmte Wörter, die man gerne als Wandtattoo in vielen Wohnzimmern findet. Sehr beliebt sind auch Unendlichkeitsschleifen, in denen das Wort "Family" oder Ähnliches auftaucht. Ich verstehe den Kunden, der das gerade zum ersten Mal sieht und das für eine absolut kreative Ausdrucksform von unendlicher Liebe hält. Aber dieses Tattoo haben so viele. Ich finde es schöner, sich von der Masse abzuheben. Aber jeder hat seinen eigenen Geschmack.
Vielen Dank für das Gespräch und die spannenden Einblicke!
Fauve Lex ist freischaffende Künstlerin und Tattoo Artistin und hat ein Tattoostudio in Solingen. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Sachverständige für Tätowierungen.
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