Kritik an Corona-Maßnahmen: Das ver­fas­sungs­recht­liche Argu­ment hat es schwer

Gastbeitrag von Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago)

05.02.2021

Es gehört zum politischen Alltag, dass Experten in den Bundestag eingeladen werden – auch Verfassungsrechtler. Doch sie haben es schwer, mit ihren Argumenten durchzudringen, wenn jede Kritik in "Querdenker"-Nähe gerückt wird.

Im Januar berief sich ein Artikel der Tageszeitung Die Welt auf Stellungnahmen von Dr. Andrea Kießling, Universität Bochum, und Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg in Anhörungen des Deutschen Bundestages. Der Titel des Textes: "Verfassungswidrige Grundrechtseingriffe? Union und SPD ducken sich weg". Der Auseinandersetzung meinte sich der kommissarische Vorsitzende des Rechtsausschusses, Prof. Dr. Heribert Hirte, CDU, in einem Tweet mit dem Hinweis entziehen zu können, auch die Querdenker zitierten in ihren zahlreichen Emails an Abgeordnete des Deutschen Bundestages eben jene Experten. 

Dieser Tweet erregte binnen kurzem große Aufmerksamkeit, weil die Netzgemeinde ihn verstehen durfte, als ob, wer die Rechtsmeinungen von Kießling und Kingreen teile, schon ein Querdenker sei. Hirte bediente ein Argumentationsmuster, das den Sommer über funktionierte: Kritiker der Corona-Politik sind prinzipiell in einer Nähe zu Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern zu suchen. 

Diese Diskursteilung hat die sachliche Auseinandersetzung um das Ziel, die Wahl der Maßnahmen, das Strategie-Design, die Suche nach milderen Mitteln, das Beharren auf Wirkungsketten und Infektionswahrscheinlichkeiten, die Interpretationsbedürftigkeit und Interpretation von Richtwerten, die als Grundlage staatlicher Maßnahmen dienen und vieles mehr, kurz: den Corona-Diskurs, in ein Fahrwasser gelenkt, in dem es nur noch Vernünftige oder Leugner zu geben scheint. "Querdenker!" droht zur Chiffre zu werden, wie man sich Gegenargumenten entzieht. Hirte setzte noch eines drauf, indem er Kingreen als AfD-Sachverständigen bezeichnete, was zusätzliche Wellen schlug: So fragten mich verunsicherte Studierende, die mit Kingreens Lehrbuch lernen, ob es stimme, dass er bei der AfD sei. 

Für die falsche Parteiaffiliation hat sich Hirte sogleich entschuldigt, tatsächlich hatte die FDP Kingreen als Sachverständigen eingeladen. In einem Beitrag auf dem Verfassungsblog legte Hirte dar, dass sein Tweet nicht gegen Kießling und Kingreen gerichtet sei, sondern die Auseinandersetzung mit dem Welt-Artikel bezwecke. Mit anderen Worten: Es gehe um eine politische oder mediale, jedenfalls keine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung. Wer als Jurist vom Bundestag als Sachverständiger eingeladen werde, gehe ein Reputationsrisiko ein, hatte Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth, kurz zuvor schon vorhergesehen.

Interessieren sich Gesundheitspolitiker für den Parlamentsvorbehalt?

Die von Hirte losgetretene Debatte ist diskurstheoretisch und verfassungspolitisch bemerkens- und beklagenswert. Zunächst will Hirte über die Form streiten, nicht mehr über die Sache. Wir erfahren aus Hirtes Blogbeitrag, dass Sachverständige nicht vom Bundestag, sondern von den Fraktionen eingeladen werden und das heißt dann offenbar, dass sie nicht für die Verfassung sprechen, sondern in erster Linie für die Parteipolitik und folglich auch in dieser Form weiterbehandelt werden dürfen – so jedenfalls liest sich das bei Hirte. Wir hören von ihm auch, dass die Corona-Maßnahmen nicht im Rechtsausschuss beraten werden, weil der Bundesgesundheitsminister die Ressortkompetenz hat und die Vorlagen deswegen in den Gesundheitsausschuss gehen. 

Das verfassungsrechtliche Argument eines Sachverständigen geht also doppelt unter: in einem politischen Rahmen und in einem Rahmen, der Gesundheit zum Gegenstand hat und nicht Verfassungsrecht. 

Werden sich Gesundheitspolitiker für Grundrechte, Kompetenzen, Wesentlichkeitsaspekte, Fragen des Parlamentsvorbehalts interessieren? Dieser parlamentarische Diskursrahmen ist jedenfalls nicht darauf angelegt, verfassungsrechtliche Aspekte, die den infektiologisch als richtig erkannten Zielen zuwiderlaufen, zu verarbeiten. Hirte selbst weist auf seine Verdienste hin, sich in diesem Kompetenzzuschnitt für verhältnismäßigere Regeln eingesetzt zu haben. 

Es ist offenbar bereits schwer, im Bundestag verfassungsrechtliche Argumente an den Mann und die Frau zu bringen. Das verfassungsrechtliche Argument hat es aber noch schwerer, wenn es der Verfahrensort im Bundestag, die Ausschussanhörung, zum rechtspolitischen macht, wie Hirte meint. Dann nämlich kann ein Argument unter Hinweis auf die Mehrheitsverhältnisse ("wer Rechtspolitik betreiben will, soll sich um ein Mandat bemühen"), die Demoskopie ("der überwiegende Teil der Bevölkerung hält die Maßnahmen für richtig") oder eben durch schlichtes Diskreditieren (Querdenkerzitat, AfD-Nähe) erledigt werden. 

Ist innerhalb der Politik also alles politisch? Im Umkehrschluss müsste es dann heißen: Innerhalb der Wissenschaft ist alles (nur/bloß) wissenschaftlich – und genauso wird "die Wissenschaft" momentan in der Corona-Politik auch wahrgenommen. Es gibt sie nur im Singular. Es gibt keine Schulenstreite und Interpretationen. Es gibt keine Disziplinenvielfalt. Ein Diskurs über Recht kann unter solchen Bedingungen jedenfalls nicht entstehen, wenn sogleich als parteipolitisch wahrgenommen wird, was umstritten ist. 

Der Streit der Ministerpräsidenten war belebend – und wurde wegmoderiert

Dem Leitbild des Grundgesetzes entspricht eine solche Willensbildung nicht. Das politische System des Grundgesetzes sorgt durch die Errichtung bestimmter Verfassungsorgane, Verfahren und intermediärer Strukturen dafür, dass Pluralismus und Partizipation permanent angetrieben werden. 

Das Grundgesetz errichtet eine aktiv integrierende Verfassungsordnung, die politische Dynamik nicht nur staatlich verarbeitet, sondern auch gesellschaftlich erzeugt. Der Föderalismus etwa führt zur Vervielfältigung der politischen Arenen mit dem Effekt, dass eine Oppositionspartei im Bund typischerweise in einem Land Regierungsverantwortung trägt. Die Kompetenzen der Ministerpräsidenten sind nicht, wie im Regionalismus, auf ihr Land beschränkt, sondern auch auf den Bund bezogen. Ministerpräsidenten spielen auf der Bundesebene eine Rolle, über den Bundesrat und inzwischen über die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Wie diskursbelebend war noch der Wettbewerb der Ministerpräsidenten um die sinnvollsten Maßnahmen im Frühjahr, bevor das Kanzleramt den Wettbewerb wegmoderierte. 

Anderes Beispiel: Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen, sondern sie fungieren über die Verfassungsbeschwerde auch als politische Partizipationserzwingungsrechte von Minderheitengruppen. Parlamentarische Mehrheiten werden gezwungen, andere Belange zu berücksichtigen, jedenfalls sich mit ihnen auseinanderzusetzen, damit das Gesetz nicht vor Gericht scheitert. Föderalismus und Grundrechte beheben auf diese Weise Repräsentations- und Artikulationsdefizite des parlamentarischen Prozesses und sorgen dafür, dass auch ein in Berlin erstarrter politischer Prozess, der nur noch eine Koalitionsvereinbarung "abarbeitet", oder in der Gewissheit von Modellrechnungen denkt, Anstöße erhält. Für solche Arenen, die Partizipation und Pluralismus pflegen, besteht besonderer Bedarf, wenn sich der politische Prozess vor solchen Anstößen abschottet und auch durch Gerichte nicht dazu gezwungen wird, sie zu verarbeiten. 

Aus dem Tweet des kommissarischen Vorsitzenden des Rechtsausschusses wie aus seinem erläuternden Blogbeitrag ersieht man, dass der parlamentarische Corona-Diskurs suboptimal verläuft. Die Entscheidungspraxis hat sich inzwischen in autoritär-elitären Gremien etabliert, die von der Verfassung nicht vorgesehen sind (MPK), die nicht öffentlich tagen (Kabinett), sich auf selektive Expertise stützen und sich nicht der Kritik der Opposition aussetzen müssen. Die Entscheidungen über die Grundrechtseingriffe durch Corona-Verordnungen nehmen am verfassungsrechtlich vorgedachten Willensbildungsprozess nicht teil. Offenbar ist sogar im Deutschen Bundestag jedenfalls dem Rechtsausschussvorsitzenden eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einer Verfassungsexpertise, die dieses thematisiert, so unangenehm, dass er sie rhetorisch diskreditieren zu müssen meint.

Es bleibt "die Wissenschaft" als Gegenöffentlichkeit

Pluralismus und Partizipation können unter solch schlechten Diskursbedingungen vor allem durch verfassungsrechtlich geschützte Gegenöffentlichkeiten gewährleistet werden. Deswegen ist das Demonstrationsrecht gerade in Corona-Zeiten so wichtig. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die Religionsgemeinschaften und die Wissenschaftsorganisationen sind mit besonderem grundrechtlichen Schutz ausgestattet, damit sie unbehelligt von den politischen Mehrheiten die Funktion von Gegenöffentlichkeiten erfüllen können. 

Sie folgen anderen Rationalitäten als der politische Prozess. Es geht nicht um Mehrheit, sondern vor allem um Aufklärung. Sie erfüllen eine arbeitsteilige Komplementärbedingung neben dem politischen Prozess um sicherzustellen, dass die Verfassungsordnung die Vielfalt der Interessen und Ideen vernünftig aggregiert und verarbeitet. 

Auf die Artikulation in Gegenöffentlichkeiten kommt es gerade in Zeiten an, in denen jedenfalls Verwaltungsgerichte in der summarischen Eilrechtsprüfung eine inhaltliche Normenkontrolle tatsächlich kaum vornehmen und auch nur begrenzt leisten können, in denen Kirchen verängstigt schweigen und in denen Massenmedien genauso wie soziale Medien unter den Anreizstrukturen der Aufmerksamkeitsgesellschaft Krisen aus Eigeninteresse eher befeuern. 

Es bleibt dann "die Wissenschaft". Als eine der momentan eher wenigen noch funktionierenden Gegenöffentlichkeiten darf sie sich weder als Steigbügelhalter politischer Entscheidungen noch als querdenkend behandeln lassen. Auf diese Alternative aber liefe die Umgangslogik heraus, mit der Heribert Hirte operiert. Aber auch den Kollegen in der Rechtswissenschaft sei gesagt: Rechtswissenschaftler werden ihrem Verfassungsauftrag aus Art. 5 Abs. 3 GG jedenfalls nicht durch Schweigen gerecht in der Annahme, damit der Verfassungsordnung einen Solidaritätsdienst in der Krise zu erweisen.

Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago) hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der WWU Münster inne. 

Zitiervorschlag

Kritik an Corona-Maßnahmen: Das verfassungsrechtliche Argument hat es schwer . In: Legal Tribune Online, 05.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44192/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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