Im Umgang mit Digitalisierung und Krisen zeigten die verschiedenen Abteilungen unterschiedliche Herangehensweisen: Einhelligkeit über vage Lösungen im Verfassungsrecht, Streit um konkrete Klimaschutzinstrumente im Gesellschaftsrecht.
Beim 74. Deutschen Juristentag (DJT) in Stuttgart ging es um aktuelle Herausforderungen in krisengeplagten Zeiten. Während die Abteilungen Wirtschaftsrecht und Öffentliches Recht die großen Krisen wie die Klimakrise, Hochwasser und Pandemien in den Blick nahmen, widmeten sich die Zivil- und Strafrechtler den Herausforderungen der Digitalisierung. LTO hatte vorab einen Überblick über die Themen der insgesamt sechs Abteilungen gegeben.
Beim alle zwei Jahre stattfindenden DJT vergibt die Ständige Deputation Gutachtenauftrage zu bestimmten Themen. Die Gutachten werden Monate vor der nächsten Tagung verschickt, damit Referenten die Möglichkeit haben, hierauf bezogene, das Gutachten unterstützende oder widersprechende, Thesen zu formulieren und die Diskussion auf dem DJT vorzubereiten. Die Thesen der Gutachter und Referenten bilden die Grundlage für die Beschlussvorschläge der jeweiligen Abteilungen. Die Vorsitzenden der jeweiligen Abteilungen passen diese an den Verlauf der Diskussionen an und stellen sie schließlich zur Abstimmung. Die Beschlüsse des DJT adressieren sowohl die Wissenschaft als auch den deutschen Gesetzgeber.
Die Abteilungen zeigten einen unterschiedlichen Grad an Bereitschaft zu großen Reformen. Insbesondere im Straf- und Wirtschaftsrecht signalisierten die Abstimmungsergebnisse eine starke Zurückhaltung gegenüber systematischen Veränderungen. Den von der Rechtspraxis angestoßenen Wandel der zivilrechtlichen Rechtsdurchsetzung dagegen will der DJT regulierend begleiten, in Massenverfahren drängen die Experten auf weitere grundlegende Veränderungen.
Neuregelungen zur Beschlagnahme von Smartphones
Im Strafrecht lag der Fokus auf der Frage, inwiefern es zum Schutz der Persönlichkeitsrechte Neuregelungen zur Beschlagnahme von IT-Geräten wie Laptops und Smartphones braucht.
Das geltende Recht trifft keine Unterscheidung zwischen Datenträgern und sonstigen Gegenständen und sieht keine differenzierten Eingriffsbefugnisse je nach Art und Größe des Datenträgers vor. Laptops und Smartphones dürfen daher regelmäßig bereits dann beschlagnahmt werden, wenn gegen den Besitzer der Verdacht einer Straftat besteht, auch wenn die Verdachtsmomente dünn sind und die vage Hoffnung, dort Beweise zu finden, allein auf Erfahrungswerten beruht. Angesichts der dort gespeicherten Datenmenge und der Wahrscheinlichkeit, darunter auch Privates oder gar Intimes zu finden, hält eine knappe Mehrheit der Abteilung dieses Regelungsregime für nicht mehr angemessen. Sie stimmte daher dem Gutachter Prof. Dr. Mohamad El-Ghazi (Uni Trier) zu, dass grundsätzlich Neuregelungsbedarf besteht.
Dessen weitergehenden Reformvorschlägen begegneten die Mitglieder aber mit Skepsis. Keine der 70 Personen befürwortete am Ende einen generellen Ausschluss der Beschlagnahme im Fall von Ordnungswidrigkeiten (mit Ausnahme von Cybertaten). Auch hinsichtlich Straftaten mit einem niedrigeren Strafrahmen stimmte die große Mehrheit gegen einen Ausschluss.
Jedoch sprach sich die Abteilung dafür aus, dass schon die richterliche Beschlagnahmeanordnung die Datenbestände benennen muss, die durchgesehen werden dürfen. Zustimmung erhielt El-Ghazis Forderung nach besonderen Regeln zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Wie genau dieser gewährleistet werden soll, wird der Gesetzgeber selbst ausarbeiten müssen, sollte er diesen Impuls aufgreifen.
Prozessfinanzierung, Legal Tech und Musterverfahren
Die Zivilrechtler diskutierten darüber, wie die Durchsetzung von Ansprüchen in einer zunehmend digitalisierten Welt effektiver gestaltet werden kann. Denn Kosten und Mühen hielten Anspruchsberechtigte häufig davon ab, ihre Rechte einzuklagen, was dazu führen könnte, dass sich rechtswidrige Geschäftspraktiken für Unternehmen wirtschaftlich lohnen.
Die Zivilrechtsabteilung befürwortete daher mehrheitlich, dass dritte Unternehmen wie Prozessfinanzierer und Legal-Tech-Dienstleister Zivilprozesse finanzieren oder führen. Die Details der Vertragsgestaltung will der DJT aber nicht vollständig den Verhandlungen überlassen. Vielmehr forderte die Abteilung zum Schutz der Anspruchsinhaber zwingende Regeln für Finanzierungs- und Abtretungsverträge. Der Vorschlag der Gutachterin Prof. Dr. Tanja Domej (Uni Zürich), Finanzierungsverträge zum Schutz strukturell schwächerer Gruppen einer Preiskontrolle zu unterziehen, scheiterte allerdings deutlich; nur 13 Prozent stimmten dafür.
Hinsichtlich Legal Tech ging es in der Diskussion vor allem darum, inwiefern die Regeln der anwaltlichen Rechtsberatung auch für nichtanwaltliche Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung gelten sollten. Hier machte der DJT deutlich, dass auch der gewerbsmäßige Erwerb von Forderungen im Rahmen von Abtretungsverträgen nur mit behördlicher Erlaubnis möglich sein soll. Die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht soll, wie von Tomej vorgeschlagen, auch für nichtanwaltliche Klageorganisationen gelten.
Im Übrigen fällte die Zivilrechtsabteilung eine ganze Reihe von Beschlüssen, um die Rechtsdurchsetzung in Massenverfahren wie etwa den Diesel-Schadensersatzklagen zu verbessern. So befürworten drei Viertel die Einführung einer Musterbeweisaufnahme, in der relevante Tatsachenfragen in einem Musterprozess geklärt werden. Sofern in einem Prozess bereits Beweis durch Gutachten oder Zeugenvernehmung erhoben worden ist, sollen die Ergebnisse grundsätzlich auch in einem Parallelprozess verwertbar sein. Weiterhin sprachen sich 85 Prozent der Mitglieder für die Schaffung von Leitentscheidungsverfahren aus. Zeitgleich zum Ende des 74. DJT beschloss der Bundestag am Freitag einen entsprechenden Gesetzentwurf.
Gesellschaftsrecht als Instrument für den Klimaschutz
Inwiefern darf das Gesellschaftsrecht als Instrument zur Bekämpfung des Klimawandels genutzt werden? Ist dafür nicht das Öffentliche Recht zuständig? Um diese Fragen hatte die wirtschaftsrechtliche Abteilung schon im Vorfeld des 74. DJT gerungen. Einigen missfiel das Gutachten von Prof. Dr. Marc-Philippe Weller (Uni Heidelberg) so sehr, dass sie sich zu Gegengutachten veranlasst sahen. Über sein Gutachten hatte Weller auch in der 250. Folge des LTO-Karriere-Podcasts "Irgendwas mit Recht" berichtet.
Weller hatte drei spezifische Maßnahmen – eine "Klimatrias" – vorgeschlagen: jährliche Ziele zur CO2-Reduktion ("Klimaquote"), die Einführung eines Rechtsformzusatzes für klimaneutrale Unternehmen wie zum Beispiel "GmbH (klimaneutral)" und die Ergänzung der Regelungen zur Unternehmensführung um klimabezogene Elemente.
Die etwa 100 Abstimmenden lehnten diese Vorschläge überwiegend ab – obwohl sich auch der juristische Nachwuchs, sogar Studierende, an Diskussion und Abstimmung beteiligte. Zwar sprachen sich 90 von 96 Personen dafür aus, dass dem Klimaschutz eine besondere Bedeutung unter den vielen Nachhaltigkeitsbelangen zukommt. Im Übrigen war die Abteilung mehrheitlich der Ansicht, der europäische Gesetzgeber habe bereits (zu) weitgehende Vorgaben gemacht, die Deutschland eins zu eins, aber nicht überschießend umsetzen sollte. Dabei geht es vor allem um die neue EU-Lieferketten-Richtlinie (CSDDD), die die Geschäftsleitungen großer Unternehmen zur Aufstellung von Klimaplänen im Fünfjahreszyklus verpflichtet, um Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen.
Der DJT konnte sich immerhin dazu durchringen, das Endziel auf 2045 und damit um fünf Jahre vorzuverlegen, was dem Zeithorizont des deutschen Klimaschutzgesetzes entspricht. Wellers Vorschlag, Vorstände und Geschäftsführungen abweichend von der CSDDD zu jährlichen CO2-Reduktionsplänen zu verpflichten, ging den Wirtschaftsrechtlern aber zu weit. Auch der Vorschlag, einen Rechtsformzusatz "klimaneutral" einzuführen, scheiterte gänzlich. Im Bereich der Corporate Governance erhielt Wellers Vorschlag eines "Say on Climate" – nach Wiederholung der Abstimmung – eine denkbar knappe Mehrheit. Damit ist das Recht einer Aktionärsminderheit gemeint, zu verlangen, dass die Hauptversammlung einen Beschluss über die Klimapläne des Vorstands fällt.
Mit Grundgesetzänderungen zum Katastrophenschutz?
Deutlich weniger kontrovers waren die Beschlussvorschläge in der Abteilung Öffentliches Recht, die sich damit befassten, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen erforderlich sind, um künftige Krisen effizient zu bewältigen und staatliche Hilfen bedarfsgerecht zu verteilen. Dazu sollten Gemeinsamkeiten vergangener Krisen herausgearbeitet und das bestehende Instrumentarium analysiert werden. Die Abteilung nahm dabei keine langfristige Krisenlagen wie den Klimawandel in den Blick, sondern unvorhergesehene Schocks wie etwa die Corona-Pandemie oder Hochwasser.
26 der insgesamt 36 Beschlüsse wurden ohne Gegenstimmen bei maximal drei Enthaltungen angenommen. Dass sich die 35 abstimmenden Personen so einig waren, hatte wohl auch damit zu tun, dass die Beschlüsse – wie zuvor das Gutachten von Prof. Dr. Florian Becker (Uni Kiel) – überwiegend pragmatische Überlegungen, grobe Politikleitlinien und geltendes Verfassungsrecht wiedergaben. Die Geltung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung auch im Krisenfall zu betonen, war der Abteilung wohl auch deshalb ein Anliegen, weil es im Katastrophenfall eben keine Selbstverständlichkeit ist.
Mit überwältigender Mehrheit nahm die Abteilung Beckers Reformvorschläge an, dem Bund durch Grundgesetzänderungen zu ermöglichen, die Zusammenarbeit mit den Ländern im Katastrophenfall zu regeln und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BKK) als Zentralstelle einzusetzen.
Weiterhin einigte man sich auf zahlreiche an den Gesetzgeber adressierten Erwägungen, um Betroffene im Krisenfall schneller und effizienter insbesondere finanziell zu unterstützen und dabei höchstmögliche Gleichbehandlung zu gewährleisten. Eine Pflichtversicherung für Elementarschäden, wie von einigen Ländern gefordert, wird in den Beschlüssen zwar erwähnt, aber nicht als klarer Auftrag an den Gesetzgeber formuliert.
In akuten Krisen hat die Exekutive das Heft in der Hand. Eine wichtige Stellung nimmt dabei die Ministerpräsidentenkonferenz ein. Diese im Grundgesetz zu verankern, lehnte die Abteilung jedoch deutlich ab. Einhelligkeit bestand darüber, dass das Infektionsschutzrecht für Pandemielagen nicht hinreichend gerüstet ist und es ein neues Gesetz braucht. Sehr kontrovers war die Frage, inwiefern Maßnahmen, die keinen schwerwiegenden Grundrechtseingriff begründen, auch nach ihrer Beendigung noch gerichtlich überprüfbar sein sollen. Mit 17 zu 16 Stimmen sprach sich die Abteilung für den Rechtsschutz aus. Ohne Gegenstimme forderte sie eine Aufarbeitung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen nach der Krise, wiederum nur knapp wurde auch beschlossen, eine verpflichtende Krisennachbereitung im Grundgesetz zu verankern.
mk/LTO-Redaktion
Beschlüsse des 74. Deutschen Juristentages: . In: Legal Tribune Online, 29.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55523 (abgerufen am: 15.10.2024 )
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