BVerfG aktiviert Identitätskontrolle: Karls­ruhe will Kom­mu­ni­ka­tion, nicht Kon­fron­ta­tion

von Prof. Dr. Frank Schorkopf

29.01.2016

Das BVerfG hat zum Grundrechtsschutz bei der Auslieferung nach Europäischem Haftbefehl entschieden. Die allgemeine Lesart: Karlsruhe geht auf Konfrontationskurs mit dem EuGH. Dabei hätte Luxemburg genauso geurteilt, meint Frank Schorkopf

Ein Amerikaner wird 1992 von einem italienischen Gericht zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er sei Mitglied einer kriminellen Vereinigung, habe Drogen besessen und eingeführt. Das Urteil erging in Abwesenheit, er wusste nichts davon. 2014 beantragt Italien mit einem Europäischen Haftbefehl, den Amerikaner, der sich mittlerweile in Deutschland aufhält, zur Strafvollstreckung auszuliefern. Das zuständige Oberlandesgericht (OLG) hat wegen des Abwesenheitsurteils Zweifel, erklärt das italienische Ersuchen aber für zulässig. Der Betroffene legt Verfassungsbeschwerde ein und beantragt Eilrechtsschutz – mit beiden Rechtsbehelfen ist er in Karlsruhe erfolgreich.

Der Senatsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in der Hauptsache vom 15. Dezember 2015 hat in ersten Kommentaren für Aufregung gesorgt. Wegen der ausdrücklichen Feststellung in den Entscheidungsgründen, dass die "strengen Voraussetzungen der Identitätskontrolle" erfüllt seien, lag die Schlussfolgerung nahe, nun werde EU-Recht erstmals innerstaatlich bewusst nicht angewendet.

Dazu hat das Umfeld des Gerichts beigetragen, das die Entscheidung unter dem Etikett "Solange III" handelt. Mit diesem Entscheidungsnamen wird der Beschluss in die Reihe der beiden großen Leitentscheidungen von 1974 (BVerfGE 37, 271 ff.) und 1986 (BVerfGE 73, 339 ff.) gestellt. Mit ihnen hat das höchste deutsche Gericht den sogenannten Solange-Vorbehalt formuliert, Hoheitsakte der Europäischen Union zunächst regelmäßig, später dann nur noch ausnahmsweise an den deutschen Grundrechten zu prüfen – jeweils abhängig davon, ob es einen dem Grundgesetz vergleichbaren europäischen Grundrechtsschutzes gibt.

Der EuGH hätte genauso entschieden

Das aufgeregte Interesse an der neuen Entscheidung ist durchaus angebracht – aber aus einem anderen Grund: Zwar aktiviert der Zweite Senat erstmals die Identitätskontrolle, indem er eine Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet erklärt, die gegen einen durch Unionsrecht veranlassten Hoheitsakt gerichtet ist. Die Zulässigkeitsentscheidung des OLG verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Schuldprinzips aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz (GG).

Diese Entscheidung war jedoch durch das Unionsrecht nicht determiniert, d.h. das OLG war weder durch das Primär- oder Sekundärrecht noch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, das Auslieferungsersuchen für zulässig zu erklären. Im Gegenteil.  

Das BVerfG arbeitet heraus, dass das Unionsrecht, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das GG – übereinstimmend – das Schuldprinzip anerkennen. Alle drei Rechtsordnungen ziehen daraus auch die Schlussfolgerung, dass ein in Abwesenheit verurteilter Bürger stets einen Anspruch auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens einschließlich einer Beweiswürdigung hat. Mit anderen Worten: Hätte das Oberlandesgericht von sich aus den EuGH in diesem Fall mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst, hätte es in der Sache dieselbe Antwort erhalten, die es nun vom BVerfG bekommen hat. Karlsruhe setzt also den Anspruch durch, dass die Menschenwürde durch das GG, die EMRK und das EU-Recht wesensgleich geschützt ist.

An dieser Stelle wird deutlich, weshalb wir es tatsächlich mit einer Solange III-Entscheidung zu tun haben könnten. Solange die materielle Kongruenz im Dreieck des europäischen Grundrechtsschutzes aus BVerfG, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) besteht, wird mit der Identitätskontrolle des BVerfG der europäische Grund- und Menschenrechtsstandard in Deutschland durchgesetzt.

Wohlgemerkt wird damit letztlich mittelbar die EGMR-Rechtsprechung auch in der EU selbst durchgesetzt – eine versteckte Pointe nach dem vorerst am EuGH gescheiterten EU-Beitritt zur EMRK? Für die Kritiker Karlsruhes eine wohl recht unerwartete Dimension der Dogmatik zur Verfassungsidentität. In dem Beschluss des Zweiten Senats ist damit aber zugleich angelegt, dass bei einer Inkongruenz im Dreieck des Grundrechtsschutzes der Gewährleistungsinhalt des Grundgesetzes den Vorrang erhalten wird.

Das BVerfG lädt ein zum Dialog

Der Preis für diese interessante Erweiterung des außenverfassungsrechtlichen Instrumentariums ist die weitere Aufwertung von Art. 1 Abs. 1 GG zu einem operativen Grundrecht. Die Gewährleistungsinhalte des Grundgesetzes, wie etwa Eigentumsschutz oder Meinungsfreiheit, müssen jeweils in einen Menschenwürdekern umgedacht werden.
Das wird in der Praxis die Begründungslasten für die Fachgerichte weiter erhöhen und könnte auch zu einer geringeren Vorhersehbarkeit der Spruchpraxis führen. Dass es dogmatisch auch einen anderen Weg geben könnte, zeigt eine noch aktuelle Kammerentscheidung zu einem Europäischen Haftbefehl aus Belgien gegen einen Deutschen. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hob die Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts wegen Verstoßes gegen Art. 16 Abs. 2 GG auf, ohne auf die Identitätskontrolle einzugehen (BVerfG, Beschl. v. 7.10.2015, Az. 2 BvR 1860/15).

Der aktuellen Senatsentscheidung ist anzumerken, dass das BVerfG weiter nicht nur mit den europäischen Gerichtshöfen in Luxemburg und Straßburg, sondern auch mit den Verfassungsgerichten der anderen EU-Mitgliedstaaten im Gespräch bleiben möchte. Die Entscheidungsgründe zitieren viele ausländische Judikate und setzen sich teilweise mit ihnen auseinander. Der Zweite Senat hat erkannt, dass die nun in der Praxis aktivierte Identitätskontrolle im europäischen Verfassungsgerichtsverbund nur erfolgreich sein kann, wenn andere Verfassungsgerichte diesen Ansatz übernehmen.

Der Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2015 erinnert daran, dass das periphere Auslieferungsrecht eine ertragreiche Sachmaterie für die Verfassungsrechtsprechung zu den auswärtigen Beziehungen ist. Eine weitere Bewertungsdimension wird sich erst durch die angekündigte Hauptsacheentscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der EZB-Anleihekäufe eröffnen. Dann wird deutlich werden, ob die Identitätskontrolle neben die ultra vires-Kontrolle treten oder diese in der Praxis ablösen wird.

Der Autor Prof. Dr. Frank Schorkopf lehrt deutsches und europäisches öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Frank Schorkopf, BVerfG aktiviert Identitätskontrolle: Karlsruhe will Kommunikation, nicht Konfrontation . In: Legal Tribune Online, 29.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18318/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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