"Truthiness" im amerikanischen und deutschen Recht: Wider die gefühlte Wahrheit

von Martin Rath

09.03.2014

2/2: Satiriker bestellt sich selbst zum "Freund des Gerichts"

Der Verfasser des Cato-Instituts verteidigt diese "Truthiness" gegen das Recht der Wahlkommission von Ohio, offensichtliche Unwahrheiten zu zensieren. Die Wähler hätten einen Anspruch darauf, "Wahrheit" mehr zu fühlen als zu denken, Politiker einen Anspruch darauf, das Publikumsbedürfnis an Unsinn zu befriedigen.

Die gutachterliche Großzügigkeit gegenüber politischem Unfug kommt nicht von ungefähr. Das Cato-Institut präsentiert den höchsten Richtern der USA als Amicus Curiae den scharfzüngigen Patrick Jake O’Rourke (geb. 1947), der sich im Schriftsatz selbst ironisch überhöht, aber wohl nicht ganz zu Unrecht als "führenden politischen Satiriker" der USA bezeichnet.

O’Rourke verteidigt das Recht, in Wahlkämpfen den größtmöglichen Unsinn vom Gegner behaupten zu dürfen, nicht zuletzt damit, dass eine Zensur durch Kommissionen und Gerichte ihm und seinen Satiriker-Kollegen das Geschäft verderben würde. Doch kann er sich darüber hinaus auch auf gewichtige Argumente und Präjudizien stützen: Den inkriminierten Vorwurf an den republikanischen Abgeordneten Driehaus, dieser habe mit seiner Unterstützung für Obamas Krankenversicherungssystem eine staatliche Abtreibungsfinanzierung gefördert, könne man je nach rechtlicher, ökonomischer oder theologischer Perspektive für mehr oder weniger unwahr bzw. unsinnig halten. Auf welches Kriterium könnte sich ein Gericht schon verbindlich stützen?

Zudem belegt O’Rourke den etablierten Grundsatz, wonach die Rechtsprechung zur Redefreiheit ebenso dazu diene, scharfzüngig kluge Dinge zu äußern und damit den frei geäußerten Unsinn zu bekämpfen – sie habe nicht den Zweck, Unsinn zum Schweigen zu bringen.

Politiker haben das Recht zu lügen, um Satiriker zu ernähren

Den US-Politikern möge das Herumferkeln in offensichtlichen Lügen, irrsinnigen Halbwahrheiten und polemischen Zuspitzungen nicht mit den Mitteln eines "Verbraucherschutzes für Wähler" madig gemacht werden – als Plädoyer eines hochkarätigen US-amerikanischen Satirikers liest man das gern.

O’Rourkes deutschen Kollegen gönnt man den Spaß an den Verlogenheiten der Politik weniger: Sind deutsche TV-Kabarettisten, die aus der Rundfunksteuer entlohnt werden und es damit vermutlich zum ARD-/ZDF-Vermögensmillionär bringen, glaubwürdig darin, die mehr langweilige als verlogene Rhetorik des deutschen Parlamentarismus zu geißeln?

Wie groß derweil auch das Bedürfnis des deutschen Publikums ist, nicht mit den ewig gleichen Phrasen bedient zu werden, lässt sich anhand der Ukraine-Krise in den sozialen Netzwerken beobachten: Unabhängig davon, wie interessengeleitet abweichende Standpunkte sind, herrscht die helle Freude vor, einem angeblich antirussischen Mainstream am Zeug zu flicken.

Gedankenexperiment: "Bundestagskanzel der Wahrheit"

Der Markt der Meinungsbildung, wie von O’Rourke für die USA verteidigt, ist hierzulande ineffizient. Es geht nicht allein um den Unterhaltungswert, fraglich ist auch, ob die Probleme der Gesellschaft hinreichend klar identifiziert werden.

Kabarettisten mit erwartbaren Einsichten und Sendeplatz bei ARD und ZDF helfen nicht. Die Politiker selbst sind in Talkshows zu finden, was auf ewige Übungen in der Kindergartenrhetorik hinausläuft, dem Gegner ins Wort zu fallen, ohne selbst beim Ausreden behindert zu werden. Politische Willensbildung sieht anders aus.

Helfen könnte in diesem institutionellen Setting eine "Bundestagskanzel der Wahrheit", ein räumlich etwas abgesondertes, in Ausnahmefällen zu nutzendes Rednerpult. Die Spielregel könnte lauten: Wer hier spricht, steht unter Eid, falsche Tatsachenbehauptungen führen ohne Umwege zur Anklage eines Meineids,  Verbrechen nach § 154 Strafgesetzbuch.

Sinn eines solchen Gedankens ist es nicht, die Ermittlungsbehörden damit zu beschäftigen, Politiker beim Schwindeln zu erwischen. Die preußische Idee, Berliner Staatsanwälte könnten im Besitz höherer Wahrheiten sein als gewählte Volksvertreter, ist tot. Der Witz liegt vielmehr darin, die stark bürokratisch formalisierte Debatte zu zergliedern: ein neues Rednerpult für die staatsnotwendigen Tatsachenbehauptungen, das alte für den Schlagabtausch in der Rhetorik der "truthiness".

Man mag das Gedankenexperiment schräg finden. Das bestehende Korsett scheint jedenfalls ein wenig eng.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, "Truthiness" im amerikanischen und deutschen Recht: Wider die gefühlte Wahrheit . In: Legal Tribune Online, 09.03.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11269/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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