Die Reichsfluchtsteuer: Eine Bitte an die Politik

von Martin Rath

21.07.2013

2/2: Deportation ins Vernichtungslager steuerpflichtig

Zu den bereits 1931 etablierten Ausnahmetatbeständen von der Reichsfluchtsteuer zählte die Abwanderung von „Personen, deren ausländischer Wohnsitz im deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesse“ lag.

Diese Vorgabe bereitete der Finanzverwaltung juristische Auslegungsprobleme: Das Parteiprogramm der NSDAP sollte bekanntlich von Justiz und Verwaltung als Dokument von Verfassungsrang herangezogen werden – in den ersten Auflagen der Gesetzessammlung "Schönfelder" war es nicht umsonst unter Nr. 1 abgedruckt. Weil es die NS-Führung als im "deutschen Interesse" gelegen sah, wenn Deutsche jüdischer Herkunft aus dem Land flohen, hätte dies – selbst nach den überschaubaren Regeln juristischer Logik – zur Anwendung des Ausnahmetatbestands führen müssen.

Um die jüdischen Flüchtlinge gleichwohl systematisch zur Reichsfluchtsteuer heranzuziehen, entwickelte der für diese Steuer zuständige Referent im Reichsfinanzministerium, Dr. iur. Kurt Zülow (1889-1942), die notwendige Auslegungsrabulistik: Selbst wenn ein "Inlandsinteresse" an der Auswanderung der Juden bestehen sollte, könnten diese doch im Ausland eine "gegen Deutschland" gerichtete Tätigkeit entfalten. Das "Inlandsinteresse" allein genüge also nicht, um von der Steuer zu befreien.

Zu den monströsen juristischen Distinktionen des NS-Staats zählt zweifellos auch eine des Reichsfluchtsteuerrechts: So veranlagten die Finanzämter jene Menschen, die seit 1941 aus dem Reichsgebiet zunächst in die Ghettos Osteuropas, dann in die Vernichtungslager verschleppt wurden, zur Reichsfluchtsteuer. Ausgenommen blieben jene, die in das sogenannte "Alters-" oder "Vorzeige-Ghetto" Theresienstadt deportiert wurden – dieses Konzentrationslager im "Protektorat Böhmen und Mähren" galt als im Reichsgebiet gelegen.

Ideenwettbewerbe im Reichsfinanzministerium

In ihrem ersten Band der Reihe "Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus" zeichnet Christiane Kuller die ganze Vielzahl von steuerrechtlichen Perfidien nach. Unter Beteiligung eines Dr. iur. Walter Kühne (1892-1968), der in den 1950ern ausgerechnet Präsident des Bundesausgleichsamtes werden sollte, wurden im Reichsfinanzministerium nachgerade Ideenwettbewerbe zur antisemitischen Anwendung oder Änderung des Steuerrechts betrieben: Jüdische Steuerzahler konnten die Steuer an ihre Kultusgemeinde nicht mehr – wie die Kirchensteuer – einkommensteuermindernd geltend machen. Nachdem nach den Olympischen Spielen von 1936 kein internationaler Protest mehr zu befürchten war, wurden ihnen die Kinderfreibeträge gestrichen. Jüdische Künstler und Gelehrte erhielten keine Umsatzsteuerbefreiung mehr.

Teil des Ideenwettbewerbs: Jüdischen Umsatzsteuerpflichtigen wurde die vereinfachte Buchführung verweigert – für Kleinunternehmer eine evidente Schikane. Nach der Reichspogromnacht wurden die Finanzämter schließlich direkt mit der systematischen Ausplünderung betraut – die sogenannte "Sühneleistung", eine entschädigungslose Enteignung in Höhe von einer Milliarde Reichsmark trieben sie ein.

Es verbietet sich selbstverständlich, für heutige Steuerfluchtdiskussionen Analogien zu ziehen. Dennoch eine kleine Bitte: Die martialische Sprache möchte sich "die Politik" bei der Sanierung ihrer Haushalte doch bitte sparen. Dass man von Geld und Vermögen auch in freiheitsfreundlicher Emphase sprechen muss, daran sollten nicht erst die Reichfluchtsteuerpflichtigen der 1930er- und 1940er-Jahre erinnern müssen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Die Reichsfluchtsteuer: Eine Bitte an die Politik . In: Legal Tribune Online, 21.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9180/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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