Rechtsphilosophie: Ein böses Wort zum Wahlsonntag

von Martin Rath

22.09.2013

"Was ist eigentlich das Staatsvolk?", lautet eine Kinderfrage, auf die Juristen manchmal auch eine sehr kindliche Antwort geben. "Wenn jemand nicht zur Wahl geht, gehört er dann auch zum Staatsvolk?" – die Frage ist schon schwieriger. Eine nicht ganz ernsthafte rechtsphilosophische Nichtwählerbeschimpfung von Martin Rath.

Welch kindliche Antworten selbst große Denker auf bedeutende Fragen zur Welt, zur Philosophie und zu den Dingen überhaupt geben, erzählt der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) in seinem ziemlich wunderbaren Büchlein "Begriffe in Geschichten" (Frankfurt/Main, 1998). Fragt das Kind: "Woher kommt es, daß die elektrische Eisenbahn fährt?", erhält es die Antwort: "Durch den Strom." Auf die Nachfrage: "Woher kommt der Strom?", geht das Spiel über die Steckdose, das Geld zum Strombezahlen, die Bank und Zentralbank zum Staat und woher der eigentlich das Geld bekommt, worauf Blumenbergs Beispiel-Eltern antworten: "Von mir."

Wer würde nicht gerne Mäuschen sein bei den Frage-Antwort-Spielen, die Kinder mit ihren Eltern am Wahlsonntag anstrengen. Bei der Frage nach der Staatsgewalt, der Demokratie und diesen ganzen staatsrechtlichen und -philosophischen Dingen überhaupt, wird die Antwort am Ende wohl sehr oft lauten: "Von mir."

Zirkuläre Antworten geben, darf man das?

Das pädagogische Spiel mehr oder weniger zirkulärer Erklärungen fiele nicht weiter ins Gewicht, fände man es nicht auch in zentralen Fragestellungen der Rechtswissenschaft wieder. Klaus Stern, der prominente Staatsgelehrte, formuliert beispielsweise in seinem Werk "Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland" (Band 1, § 8, 2. Auflage, 1984): "Aus der Souveränität des Staates folgt sein Recht, die Bedingungen der Angehörigkeit zu ihm zu regeln. Staatsangehörigkeit ist ein Bestandteil der inneren Angelegenheiten des Staates; durch sie wird das Staatsvolk konstituiert und der Träger der Souveränität formiert."

Will wohl sagen: Die Staatsgewalt begründet das Staatsvolk, das Staatsvolk begründet die Staatsgewalt. Und weil es damit vor lauter Kraft nicht mehr gut laufen kann, muss das Staatsvolk irgendwo bleiben, ein drittes Element kommt hinzu: das Staatsgebiet. Juristen sprechen von der Drei-Elemente-Lehre der Staatsrechtswissenschaft und benennen ehrfürchtig einen der Ihren, den Heidelberger Professor Georg Jellinek (1851-1911), als Entdecker dieser etwas zirkulären Übung.

Man muss auch einfach daran glauben – muss man?

Hans Blumenberg lässt das zirkuläre Enträtseln der Welt mit einem letzten Frage-Antwort-Paar enden, diesmal fragt der Vater bzw. die Mutter zuerst: "Zufrieden?" Das erschöpfte Kind antwortet: "Ja, ziemlich."

Die auf Georg Jellinek zurückgehende, ziemlich zirkuläre Erklärung des Staates lebt auch davon, dass die Leute auf die Frage, ob sie zufrieden seien, sagen: "Ja, ziemlich." Was wollen aber Menschen sagen, die alle vier Jahre an einem zentralen Ritual dieses Staates nicht teilnehmen?

Die Beteiligung an Bundestagswahlen lag 1949 bei rund 78 Prozent, im Jahr 2009 bei gut 70 Prozent, selbst in Zeiten, in denen der wahlberechtigte Teil des Staatsvolks sich scharf nach links und rechts orientierte – 1972 und 1976 – blieb rund jeder Zehnte der Urne fern. Als Kinderfrage formuliert: "Wenn jemand nicht zur Wahl geht, will er dann überhaupt dazugehören?"

Kommt es darauf an, dass nicht nur Staatsrechtsprofessoren und andere Juristen an den Zirkel der drei Elemente glauben, sondern auch der einfache Mensch, der sich der Stimmabgabe verweigert? Viele, die nicht zur Wahl gehen, scheinen ziemlich unzufrieden zu sein. Befragt, woran das liege, kommt oft das Gefühl zum Ausdruck, effektiv keinen Einfluss auf das Staatsgeschick nehmen zu können. Ein berühmter Parteienrechtler, Hans Herbert von Arnim, gab dieser Gefühlslage einen populären Ausdruck, als er 1993 über die politischen Parteien schrieb, sie hätten sich den "Staat als Beute" genommen.

Augustinische Wahlverweigerung aus der Laiensphäre

Der Staat sei die Beute intransparenter Mächte, der Parteien, Geheimdienste oder "der Wirtschaft". Gut möglich, dass sich viele Nichtwähler der Staatstheorie des antiken Theologen und Philosophen Augustinus von Hippo verpflichtet fühlen, der im 4. Jahrhundert fragte: "Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt."

Diesen Gedankengang kann man mit einem juristischen Mittel aus dem Strafrecht leicht einordnen. Kennt ein Verbrecher zwar nicht den Wortlaut des Gesetzes, wohl aber die Verbotenheit seines Handelns, spricht der Jurist von der "Parallelwertung in der Laiensphäre". Der Nichtwähler, der in der Republik eine von ungerechten, intransparenten Mächten regierte Räuberbande sieht, gleicht hier intellektuell dem Verbrecher: Er kennt die Drei-Elemente-Lehre zwar nicht, würde auf Befragen doch zugeben müssen, dass er – wenn auch unwillig – zum Staatsvolk zählt, solange er sich auf einer Fläche bewegt, in der ihn andere zu ihrer Bande zählen. Nur, dass es eben nicht gerecht zugeht.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsphilosophie: Ein böses Wort zum Wahlsonntag . In: Legal Tribune Online, 22.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9599/ (abgerufen am: 01.05.2024 )

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