Jugendstrafrecht für Erwachsene: Kreativer strafen

von Dr. Philip von der Meden

21.07.2014

2/2: Jugendstrafrecht: Heilung verkorkster Beziehungen

Ein wichtiger Punkt der nie verstummenden Kritik am Strafen, aber auch der Kritik der Opferverbände am Strafprozess, dürfte in diesem Symbolismus begründet liegen, auf den der freiheitliche Staat beschränkt zu sein scheint. Anders als der in jeder Verurteilung liegende Tadel, der das begangene Unrecht explizit benennt, ist die Sanktion vom Unrecht völlig entkoppelt. Sie trifft den Dieb wie den Schläger, den Steuerhinterzieher wie den Kinderschänder auf die gleiche qualitative Weise. Differenziert wird nur in der Höhe, nicht in der Art der Strafe.

Aber ist der Staat wirklich allein auf scheinbar leicht quantifizierbare Größen, auf Monate, Jahre und Tagessätze verwiesen, wenn er gegenüber dem Rechtsbrecher die Geltung der Norm verteidigt? Im Jugendstrafrecht etwa sieht das Gesetz die gesamte Spannbreite denkbarer Reaktionen vor. Das Gericht kann hier in den vom Grundgesetz gezogenen Grenzen individuell auf die Verletzung strafbewehrter Normen reagieren.

Bei aller im Detail berechtigten Kritik ist das Jugendstrafrecht im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte. Mit seiner Betonung des Erziehungsgedankens lässt es den am Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende Beteiligten einen weiten Spielraum bei der Bestimmung der angemessenen Reaktion auf kriminelles Verhalten. Dies kommt nicht nur den Tätern, sondern in vielen Fällen auch den Opfern zugute. Weil die Straftat im Jugendstrafrecht in der Regel als Ausdruck der Unreife und nicht primär als freiheitliche Entscheidung für die Rücksichtslosigkeit gesehen wird, rückt der Blick nach Vorne in den Fokus der Bemühungen. Es geht nicht mehr nur um die Quantifizierung von Unrecht und den reaktiven Gegenstoß mit Freiheits- oder Geldstrafe, sondern – wenn dieser pathetische Begriff erlaubt ist – um Heilung verkorkster Beziehungen.

Anti-Aggressions-Training auch für Erwachsene

Natürlich kann das Strafverfahren dabei Erziehung nicht ersetzen und Nachreifung nicht erzwingen. Auch im besten Fall wird die Hauptverhandlung niemals zur Gruppentherapie werden. Aber das Ergebnis eines gelungenen Strafprozesses kann auch eine autoritativ vermittelte Aufforderung sein, Verhalten zu ändern und sich mit begangenem Unrecht anders als durch das Erdulden von Freiheits- und Geldstrafe auseinanderzusetzen. Man mag, etwa unter dem Gesichtspunkt von Rückfallquoten, über die Effektivität von Maßnahmen streiten, die nicht mehr dem Anachronismus der Sühne verpflichtet sind. Effektivität ist jedoch andererseits auch nicht das Aushängeschild des geltenden Sanktionsrechts.

Man mag auch darüber streiten, welche Fälle sich für eine solche Übertragung der Grundsätze des Jugendstrafrechts eignen. Dass es geeignete Fälle in einer beachtlichen Anzahl gibt, dürfte hingegen auf der Hand liegen. Ein Blick in § 10 des Jugendgerichtsgesetzes gibt einen ersten Anhaltspunkt für mögliche Sanktionen. Sitzt dem Täter die Faust locker, kann er auch mit Ende 60 noch zum Anti-Aggressions-Training geschickt werden. Wer klaut, um seine Sucht zu finanzieren, bedarf keiner Freiheitsstrafe, sondern einer Drogentherapie. Und warum nicht die wirtschaftlichen Fähigkeiten des Steuerhinterziehers einer sozialen Einrichtung zur Verfügung stellen?

Der Gesetzgeber könnte in Anlehnung an die bestehenden Vorschriften des Jugendstraf- und des Bewährungsrechts den Gerichten die Möglichkeit einräumen, strafrechtliche Sanktionen der individuellen Person in ihrem sozialen Kontext anzupassen. Einen Versuch wäre es wert. 1870 war unser Strafrecht eine Errungenschaft des freiheitlichen Denkens. Mehr als 140 Jahre später ist unsere Gesellschaft sich ihrer selbst vielleicht ein bisschen sicherer geworden. Sie muss nicht mehr versuchen, usurpierte Freiheitssphären allein durch Freiheits- oder Geldstrafe auszugleichen. Sie kann soziale Konflikte konkret, zukunftsorientiert und ohne Angst vor Autoritätsverlust angehen. Denn sie ist, so bleibt zumindest zu hoffen, souverän geworden.

Der Autor Dr. Philip von der Meden arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei Römermann Rechtsanwälte Aktiengesellschaft. Außerdem lehrt er an der Bucerius Law School Strafrecht.

Zitiervorschlag

Dr. Philip von der Meden, Jugendstrafrecht für Erwachsene: Kreativer strafen . In: Legal Tribune Online, 21.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12629/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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