Vor kurzem kam aus Nordrhein-Westfalen wieder der Vorschlag, Steuersünder mit Fahrverboten zu bestrafen. Das ist kein Populismus, sondern ein richtiger Ansatz, meint Philip von der Meden. Eine souveräne Gesellschaft muss sich nicht auf Monate, Jahre und Tagessätze beschränken. Warum nicht die wirtschaftlichen Fähigkeiten eines Steuerhinterziehers einer sozialen Einrichtung zur Verfügung stellen?
Die Geschichte der Kriminalstrafe ist die Geschichte des Selbstverständnisses des staatlichen Souveräns gegenüber der von ihm beherrschten Gesellschaft. Sie ist bis heute zunächst eine Geschichte der Gewalt. Der Souverän straft, um seinen Machtanspruch durchzusetzen und seine Vorherrschaft zu bekräftigen. Wer sich nicht an die vom Souverän vorgegebenen Normen hält, verletzt damit nicht nur Rechtsgüter. Er greift auch die Vormacht derjenigen Institution an, die für sich das Monopol der Normsetzung in Anspruch nimmt.
Doch nicht nur die Definition dessen, was strafwürdig ist, sondern auch die Bestimmung des Strafübels, ist Ausdruck des Selbstverständnisses des Souveräns. Der Umgang mit dem Rechtsbrecher verrät dabei vielleicht mehr über den Souverän als dessen Definition des Erlaubten und Verbotenen.
Strafrecht freiheitlicher Demokratien wird bescheiden
Für den absolutistischen Herrscher ist Strafe noch Körperstrafe. Sie geht bis zur physischen Vernichtung des faulenden Teils im Leviathan. In der Herrschaft über den beseelten Leib rekonstituiert der Herrscher von Gottes Gnaden die Geltung seiner Norm. Als irdischer Verwalter des göttlichen Willens darf er über die Normunterworfenen vollständig verfügen. Es gibt keinen letzten Rückzugsort des Privaten, der dem Herrscher in seinem alles vereinnahmenden Machtanspruch entzogen wäre. Jeder Normbruch stellt den Souverän in Frage.
In den freiheitlichen demokratischen Rechtsordnungen ist das anders. Ist das Volk selbst zum Souverän geworden und basiert die Legitimität staatlicher Gewalt auf der Zustimmung des Einzelnen, wird der Normbruch zum performativen Selbstwiderspruch. Der Strafrichter ist jetzt nicht mehr der verlängerte Arm Gottes, sondern der praktisch werdende Widerhall der Vernunft des Rechtsbrechers.
Die Sanktion geht deshalb – zumindest in der Theorie – nie weiter als bis zum Grund ihrer selbst: Der Kern sittlicher Selbstbestimmung darf auch in der schärfsten Sanktion nicht vernichtet werden. Das Strafrecht wird bescheidener. Es überlässt dem Einzelnen im Ausgangspunkt die Definition der für ihn geltenden Normen, solange das darauf basierende Verhalten mit den Freiheitsrechten der anderen vereinbar ist. Nicht jeder Normbruch ist jetzt noch Rechtsbruch. Und kaum ein Rechtsbruch richtet sich noch direkt gegen den Souverän.
Monate, Jahre und Tagessätze: die Währung der Vergeltung
Die Strafe des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats ist deshalb die Freiheitsstrafe. Der Begriff ist vielsagender als es auf den ersten Blick scheinen mag. Nicht Gefängnisstrafe heißt es, sondern Freiheitsstrafe. Freiheitsstrafe ist der Versuch, der inneren Freiheit eine äußere Grenze zu setzen. Denn natürlich nimmt ein humaner Strafvollzug dem Verurteilten nicht die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Aber er beschneidet genauso offensichtlich massiv dessen praktische Handlungsmöglichkeiten. Dabei setzt sich der Souverän jedoch in seiner Machtausübung über den Einzelnen selbst eine Grenze. Er achtet die innere Freiheit des Einzelnen. Er achtet die Menschenwürde.
Die Verletzung der Norm wird primär als fehlgeleitete Deliberation des Einzelnen verstanden. Weil der Souverän – damit er mit der Möglichkeit zur Selbstbestimmung seine eigene Grundlage nicht verleugne – die innere Freiheit unangetastet lassen muss, weicht er auf die äußere Freiheit aus. Er tut dies auf wenig differenzierte Weise. So bunt die Lebenssachverhalte sind, die Strafnormen erfassen, so eintönig ist die Rechtsfolge der Freiheitsstrafe.
Weil als gemeinsamer Grund aller Straftaten nach freiheitlichem Verständnis bloß die fehlgeleitete Freiheit selbst übrig bleibt, kann die Übelzufügung als Teil der Rechtsfolge in jedem Fall qualitativ identisch sein. Immer ist sie im Kern bloß symbolischer Natur. Sie will verzweifelt bemessen, in welchem Grad die Freiheit des Straftäters irr gegangen und die der anderen verletzt hat. Monate, Jahre und (im Fall der Geldstrafe) Tagessätze werden zur Währung der Vergeltung.
2/2: Jugendstrafrecht: Heilung verkorkster Beziehungen
Ein wichtiger Punkt der nie verstummenden Kritik am Strafen, aber auch der Kritik der Opferverbände am Strafprozess, dürfte in diesem Symbolismus begründet liegen, auf den der freiheitliche Staat beschränkt zu sein scheint. Anders als der in jeder Verurteilung liegende Tadel, der das begangene Unrecht explizit benennt, ist die Sanktion vom Unrecht völlig entkoppelt. Sie trifft den Dieb wie den Schläger, den Steuerhinterzieher wie den Kinderschänder auf die gleiche qualitative Weise. Differenziert wird nur in der Höhe, nicht in der Art der Strafe.
Aber ist der Staat wirklich allein auf scheinbar leicht quantifizierbare Größen, auf Monate, Jahre und Tagessätze verwiesen, wenn er gegenüber dem Rechtsbrecher die Geltung der Norm verteidigt? Im Jugendstrafrecht etwa sieht das Gesetz die gesamte Spannbreite denkbarer Reaktionen vor. Das Gericht kann hier in den vom Grundgesetz gezogenen Grenzen individuell auf die Verletzung strafbewehrter Normen reagieren.
Bei aller im Detail berechtigten Kritik ist das Jugendstrafrecht im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte. Mit seiner Betonung des Erziehungsgedankens lässt es den am Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende Beteiligten einen weiten Spielraum bei der Bestimmung der angemessenen Reaktion auf kriminelles Verhalten. Dies kommt nicht nur den Tätern, sondern in vielen Fällen auch den Opfern zugute. Weil die Straftat im Jugendstrafrecht in der Regel als Ausdruck der Unreife und nicht primär als freiheitliche Entscheidung für die Rücksichtslosigkeit gesehen wird, rückt der Blick nach Vorne in den Fokus der Bemühungen. Es geht nicht mehr nur um die Quantifizierung von Unrecht und den reaktiven Gegenstoß mit Freiheits- oder Geldstrafe, sondern – wenn dieser pathetische Begriff erlaubt ist – um Heilung verkorkster Beziehungen.
Anti-Aggressions-Training auch für Erwachsene
Natürlich kann das Strafverfahren dabei Erziehung nicht ersetzen und Nachreifung nicht erzwingen. Auch im besten Fall wird die Hauptverhandlung niemals zur Gruppentherapie werden. Aber das Ergebnis eines gelungenen Strafprozesses kann auch eine autoritativ vermittelte Aufforderung sein, Verhalten zu ändern und sich mit begangenem Unrecht anders als durch das Erdulden von Freiheits- und Geldstrafe auseinanderzusetzen. Man mag, etwa unter dem Gesichtspunkt von Rückfallquoten, über die Effektivität von Maßnahmen streiten, die nicht mehr dem Anachronismus der Sühne verpflichtet sind. Effektivität ist jedoch andererseits auch nicht das Aushängeschild des geltenden Sanktionsrechts.
Man mag auch darüber streiten, welche Fälle sich für eine solche Übertragung der Grundsätze des Jugendstrafrechts eignen. Dass es geeignete Fälle in einer beachtlichen Anzahl gibt, dürfte hingegen auf der Hand liegen. Ein Blick in § 10 des Jugendgerichtsgesetzes gibt einen ersten Anhaltspunkt für mögliche Sanktionen. Sitzt dem Täter die Faust locker, kann er auch mit Ende 60 noch zum Anti-Aggressions-Training geschickt werden. Wer klaut, um seine Sucht zu finanzieren, bedarf keiner Freiheitsstrafe, sondern einer Drogentherapie. Und warum nicht die wirtschaftlichen Fähigkeiten des Steuerhinterziehers einer sozialen Einrichtung zur Verfügung stellen?
Der Gesetzgeber könnte in Anlehnung an die bestehenden Vorschriften des Jugendstraf- und des Bewährungsrechts den Gerichten die Möglichkeit einräumen, strafrechtliche Sanktionen der individuellen Person in ihrem sozialen Kontext anzupassen. Einen Versuch wäre es wert. 1870 war unser Strafrecht eine Errungenschaft des freiheitlichen Denkens. Mehr als 140 Jahre später ist unsere Gesellschaft sich ihrer selbst vielleicht ein bisschen sicherer geworden. Sie muss nicht mehr versuchen, usurpierte Freiheitssphären allein durch Freiheits- oder Geldstrafe auszugleichen. Sie kann soziale Konflikte konkret, zukunftsorientiert und ohne Angst vor Autoritätsverlust angehen. Denn sie ist, so bleibt zumindest zu hoffen, souverän geworden.
Der Autor Dr. Philip von der Meden arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei Römermann Rechtsanwälte Aktiengesellschaft. Außerdem lehrt er an der Bucerius Law School Strafrecht.
Dr. Philip von der Meden, Jugendstrafrecht für Erwachsene: Kreativer strafen . In: Legal Tribune Online, 21.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12629/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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