Juristische Texte lesen und verstehen
"Das heißt, zwar gelten die Grundrechte im Zivilrecht nicht unmittelbar, beeinflussen jedoch das bürgerliche Recht und damit auch das Arbeitsrecht dergestalt, dass keine zivilrechtliche Vorschrift im Widerspruch mit dem in den Grundrechten verankerten Wertesystem stehen darf." Bei diesem Ausschnitt aus einem Kommentar zu Art. 12 Grundgesetz dürfte so manch ein Erstsemesterstudent erst einmal schlucken und sich fragen: Was will mir der Autor hier überhaupt sagen? "Manchmal klingt die juristische Fachsprache für Laien unnötig kompliziert, teilweise sogar verschwurbelt", gibt Rechtsanwalt Lars Gußen zu. "Aber man muss sich einfach klarmachen, mit welcher Zielrichtung juristische Fachtexte geschrieben werden."
Gußen weiß, wie sich die meisten Einsteiger im Jurastudium fühlen und hat daher an der Universität Frankfurt vor einigen Jahren ein Studienanfängerprogramm aufgelegt. Ein zentraler Baustein daraus heißt "Juristische Arbeitstechniken", der später auch Grundlage für sein Buch "Wissenschaftliches Arbeiten im Jurastudium" war. Sein wichtigster Tipp für das Verständnis von juristischen Fachtexten: "Man liest sie nicht wie einen Roman von vorne nach hinten."
Stattdessen sollte man den Text zunächst aus der Vogelperspektive betrachten. Das heißt: den kompletten Text einmal durchblättern und versuchen, sich einen ersten groben Eindruck zu verschaffen: Wie lang ist der Text? Wie ist er aufgebaut? Welche Kapitelüberschriften gibt es, vielleicht ist sogar ein Inhaltsverzeichnis vorhanden? Welche wichtigen Begriffe springen mir ins Auge? "Erst wenn ich einen Überblick habe, kann ich entscheiden, ob und in welche Elemente ich tiefer einsteigen will, um sie intensiver zu bearbeiten." Denn um alle Texte zu einem Thema zu lesen, reicht die Zeit ohnehin niemals aus, gerade nicht in der vorlesungsfreien Zeit, wenn die Hausarbeiten anstehen.
"Die meisten markieren zu viel"
"Wichtig sind konkrete Zielvorstellungen", fügt Dr. Barbara Lange hinzu. Die Rechtsanwältin ist Lehrbeauftragte unter anderem an den Universitäten Bochum, Halle-Wittenberg und Passau. Auch sie hat aus ihren Erfahrungen einen Ratgeber geschrieben, er heißt "Jurastudium erfolgreich". Sie sagt: "Die meisten fangen einfach an zu lesen und markieren zu viel. Aber man erfasst einen Text nicht, indem man möglichst viele farbige Markierungen setzt."
Das Wichtigste sei, sich vor dem Lesen die Zeit zu nehmen, um zu überlegen: Wozu lese ich diesen Text? Welche Informationen will ich erhalten? Welche Fragen soll mir der Text beantworten? "Erst wenn ich weiß, wozu ich einen Text lese, kann ich die passenden Informationen markieren und für mich nutzen." Die Fähigkeit, Texte genau zu erfassen und trotzdem dabei relativ schnell zu lesen, hält sie für eine wichtige Kompetenz, die im Jurastudium zu erlernen ist.
"Zum Studienbeginn sollte man vor allem mit Überblicks- und Einführungsaufsätzen in juristischen Zeitschriften und Lehrbüchern arbeiten, die den Stoff verständlich vermitteln", sagt Lange. "Nach und nach kann man sich dann Kommentierungen, wissenschaftlichen Texten und Rechtsprechungen annähern." Je tiefer man in ein Thema einsteigt, umso besser wird man sich auf dem Gebiet auskennen. "Mit der Zeit gewöhnt man sich dann an den Aufbau von Lehrbüchern, und das Material, mit dem man arbeitet, wird zur Gewohnheit."
Fragen in Tutorien und Arbeitsgemeinschaften stellen
Eine besondere Herausforderung sind häufig die Gesetzestexte selbst. "Die meisten Paragrafentexte sind nach einem Grundsystem aufgebaut: Wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, wird eine bestimmte Rechtsfolge ausgelöst", erklärt Gußen. "Diese Informationen muss man allerdings oft erst einmal aus den Texten herausfiltern."
Sind Voraussetzung und Rechtsfolge nicht eindeutig zu erkennen, rät Gußen, die Bausteine des Paragrafentextes zu zerlegen – so wie ein Konstrukt aus Legosteinen, das man auseinandernimmt, sich eine neue Struktur überlegt und die Steine dann neu wieder zusammensetzt, um eine glatte, nach Farben sortierte Wand zu erhalten. "Genauso ist es mit Gesetzestexten: Ich muss die verschiedenen Bestandteile erkennen, sie zuordnen und gegebenenfalls neu anordnen."
Das Problem vieler Jura-Erstsemester: Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. "Daher sollte man sich früh eine systematische Arbeitsweise erarbeiten, wie man an Texte herangeht. Nur mit Systematisierung findet man durch dieses Dickicht hindurch."
Solche Startschwierigkeiten eignen sich auch für Fragen, die man in Tutorien oder Arbeitsgemeinschaften stellen kann. Diese Kleingruppenveranstaltungen bieten mittlerweile fast alle Hochschulen an, sie werden in der Regel von Studierenden höherer Semester geleitet, die sich selbst noch gut daran erinnern, wie verloren man sich zu Beginn eines Studiums fühlen kann.
Woher bekomme ich die relevanten Texte?
Doch woher bekomme ich eigentlich die Texte, die ich für mein Studium brauche? Erste Anlaufstelle wird für die meisten die Bibliothek des Juristischen Seminars sein. "Das ist in der Regel eine Einrichtung der juristischen Fakultät, in der alle wichtigen Zeitschriften, Kommentare, Lehrbücher und Monografien zu finden sind", erklärt Carl Erich Kesper, Leiter der Seminarbibliothek an der Universität Bonn. Neben der zentralen Bibliothek für Jurastudierende haben manche Universitäten Institutsbibliotheken, in Bonn ist dies etwa die Bibliothek des Instituts für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte oder diejenige für Römisches Recht und Vergleichende Rechtsgeschichte. Die Stärke der Institutsbibliotheken ist vor allem die spezialisierte Forschungsliteratur. "Im Grundstudium wird man darauf kaum zurückgreifen müssen, sondern frühestens im Hauptstudium", sagt Kesper.
Er rät Erstsemestern, sich gründlich mit der Nutzung der Kataloge der Bibliothek zu beschäftigen, in denen sämtliche Bücher und Online-Medien zu finden sind, sowie mit den Fachdatenbanken. "Fast alle Seminarbibliotheken bieten auch Schulungen zur Literaturrecherche an, die man unbedingt besuchen sollte", so seine Empfehlung. Juradozenten sehen es nämlich meist nicht als ihre Aufgabe an, den Studierenden zu sagen, welche Literatur sie wie nutzen sollen – auf Leselisten oder gar vorgefertigte Reader, wie sie in manchen anderen Studiengängen gebräuchlich sind, werden Jurastudierende vergeblich warten.
"Die Studierenden sind selbst dafür verantwortlich, wie sie ihr Studium und damit auch die Literaturbeschaffung organisieren", sagt Kesper. Trotz zunehmender Digitalisierung bevorzugen Studierende übrigens nach wie vor gedruckte Bücher, vor allem Lehrbücher auf Papier, weiß der Bonner Bibliotheksleiter. Seine Bibliothek hält daher die gesamte Studienliteratur in gedruckter Form vor. Eine Auswahl steht zusätzlich als E-Book zur Verfügung. Ein Vorteil der E-Books: Man kann mit geeigneten Programmen in einer gespeicherten Kopie Hervorhebungen oder Notizen anbringen. Bei gedruckten Büchern, die der Bibliothek gehören, sind Eintragungen natürlich verboten.
Für das Durcharbeiten von Lehrbüchern benötigt man ein eigenes Exemplar. "Wer Jura studiert, legt sich recht schnell eine ganze Reihe von Büchern zu", stellt Kesper fest. "Die Studierenden bringen ihre Bücher mit zu uns und nutzen die Bibliothek als ruhigen und gleichzeitig inspirierenden Lernort." In diesem Umfeld können Studierende sich ausführlich mit den juristischen Texten beschäftigen.
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