Die juristische Presseschau vom 16. Januar 2024: Pläd­oyer gegen Cum-Ex-Anwalt / Juris­ti­sche Ver­bände gegen "Remi­g­ra­tion" / Deut­sch­land will Israel vor dem IGH helfen

16.01.2024

Die StA fordert fünfeinhalb Jahre Haft für den ehemaligen Freshfields-Anwalt Johannemann. Berufsorganisationen gegen rechtsextremen "Masterplan". Deutschland plant eine Nebenintervention zugunsten Israels im Fall eines IGH-Hauptverfahrens.

Thema des Tages

LG Frankfurt/M. – Cum-Ex/Ulf Johannemann: Im Cum-Ex-Strafverfahren gegen den ehemaligen Freshfields-Anwalt Ulf Johannemann wegen Beihilfe zu schwerer Steuerhinterziehung forderte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/M. eine Haftstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Johannemann hatte der Maple Bank jahrelang die steuerrechtliche Zulässigkeit der Cum-Ex-Manipulationen bescheinigt, er zerstreute anfängliche Bedenken der Bank und machte gegenüber der Finanzverwaltung falsche Angaben. Johannemann zeigte sich Ende 2023 nach einem gerichtlichen Hinweis auf die hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit geständig und sagte, er habe "als Anwalt völlig versagt". Ein Urteil wird voraussichtlich Ende Januar fallen. Es berichten SZ (Meike Schreiber), Hbl (Volker Votsmeier/Henrike Adamsen), faz.net (Marcus Jung) und LTO.

Rechtspolitik

"Remigration": Die wichtigsten juristische Berufsverbände, insbesondere der Deutsche Richterbund, die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und der Deutsche Anwaltverein (DAV), verurteilen den durch journalistische Recherchen bekannt gewordenen rechtsextremen "Masterplan" für eine so genannte "Remigration" von Ausländer:innen und Deutschen mit Migrationshintergrund. Sie mahnen vor einer "zweiten Wannseekonferenz" und fordern, dass alle politischen und juristischen Mittel genutzt werden müssen, um die "gesetzliche Legitimation solcher Phantasien" zu verhindern. Es berichten LTO, beck-aktuell und zeit.de.

Derweil stellt Reinhard Müller (FAZ) zwar klar, dass es gegen die Verfassung verstößt, Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit abzusprechen, die "anders aussehen als die meisten in der eigenen Blase". Allerdings fehle "denjenigen jeder historische Verstand", die "die Forderung nach Abschiebung aller sich illegal hier aufhaltenden Menschen mit der Wannseekonferenz in Verbindung bringen". Müller resümiert: "Man darf ein Pa­triot sein, das ist dem Verfassungsschutz auch nicht immer klar, aber eben kein Rassist."

Asylbewerberleistungen: Die geplante Verlängerung reduzierter Sozialleistungen für Asylsuchende von 18 auf 36 Monate ist einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zufolge verfassungswidrig. Bereits 2012 stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz klar, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch für Asylsuchende gilt. Die Verdopplung des Zeitraums gekürzter Leistungen ist im Gesetz zur Verbesserung der Rückführung enthalten, das die Regierungskoalition am Donnerstag vom Bundestag beschließen lassen möchte. Die SZ (Wolfgang Janisch) berichtet.

Asyl: Die bayerische Regierung hat mehrere Bundesratsinitiativen zum Asylrecht beschlossen. So solle im deutschen Recht eine Integrationsgrenze gesetzlich festgeschrieben werden. Die EU solle bei Bürgerkriegen nur noch die Aufnahme von festen Kontingenten an Menschen zusagen statt einen individuellen Anspruch auf Aufnahme zu gewähren. FAZ (Timo Frasch) und sz.de berichten.

Jasper von Altenbockum (FAZ) findet, dass "Regierung und Opposition nicht vom Fleck kommen – zu ihrem eigenen Schaden."

Cannabis: Gegenüber LTO (Hasso Suliak) weist das Bundesinnenministerium (BMI) ausdrücklich darauf hin, dass es kein "internes Gutachten des Ministeriums" gebe, in dem neue Bedenken zur geplanten Cannabis-Legalisierung geäußert werden, wie von der taz am Vortag berichtet. Vielmehr sei das Gutachten von den Innenminister:innen der Länder in Auftrag gegeben und vom Bundeskriminalamt nur koordiniert worden. Das Papier gebe daher "in erster Linie die aus den Ländern zusammengetragenen Positionen wieder", so ein BMI-Sprecher. 

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Die Bundesregierung lehnt die von der CDU/CSU geforderte Beratungspflicht vor Änderung des Geschlechtseintrags weiter ab, berichtet die Welt, da sie "dem primären Regelungsziel widerspräche, nämlich den Betroffenen eine autonome Entscheidung zu ermöglichen". Der Gesetzentwurf des Selbstbestimmungsgesetzes ist derzeit in der parlamentarischen Beratung.

Personengesellschaften: Rechtsanwalt Daniel Otte zieht im Hbl knapp zwei Wochen nach Inkrafttreten der Reform des Personengesellschaftsrechts Bilanz: Zwar sei die Reform "insgesamt gelungen", allerdings bestehe Nachbesserungsbedarf hinsichtlich der "antiquierten Regelungen zu den Geschäftsführungsrechten der Gesellschafter", der umständlichen Regelungen zur Beschlussfassung im Gesellschafterkreis und der bislang nur "rudimentär" geregelten Gewinnverteilung.

Lieferketten und Menschenrechte: EU-Rat und -Parlament haben sich über die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CS3D), d.h. die EU-Richtlinie zum Schutz von Umwelt, Klima und Menschenrechten entlang der Lieferkette, grundsätzlich geeinigt, berichtet Rechtsanwalt Thomas Klindt im HBl. Er stellt die CS3D-Richtlinie vor, die u.a. eine zivilrechtliche Haftung für Verstöße vorsieht. Schadensersatzansprüche können von NGOs, Gewerkschaften und Betroffenen geltend gemacht werden. Die Einigung muss von Rat und Parlament noch förmlich angenommen werden, danach bleiben den Mitgliedstaaten zwei Jahre zur Umsetzung der Richtlinie.

Justiz

BVerfG – Ex-OB Peter Feldmann: Peter Feldmann, ehemaliger Frankfurter Oberbürgermeister, hat gegen die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der Feldmanns Revision gegen die Verurteilung wegen Vorteilsannahme Ende 2023 ablehnte, Verfassungsbeschwerde eingereicht. Feldmann begründet dies damit, dass das Strafurteil seiner Auffassung nach auf Hörensagen beruhe, wie FAZ, spiegel.de und zeit.de schreiben.

BGH zu Verjährung von Bauträgervergütung: Die Vergütung von Bauträgern unterliegt nicht der dreijährigen Regelverjährung nach § 195 BGB, sondern der zehnjährigen Verjährungsfrist des spezielleren § 196 BGB. Damit gab der Bundesgerichtshof im Dezember der Revision eines Bauträgerunternehmens statt. Der Gesetzgeber habe vermeiden wollen, dass für Ansprüche auf die Gegenleistung die Regelverjährung gelte und die Vertragsdurchführung wegen der Verjährungseinrede nicht beendet werden könnte. beck-aktuell berichtet.

BGH zu Wortmarke "Kölner Dom": Nun berichten auch LTO und bild.de (Nina Stampflmeier) über die markenrechtliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs, nach der der Begriff "Kölner Dom" nicht als Wortmarke geschützt werden kann. Damit bestätigte der BGH die Zurückweisung des Antrags durch das Bundespatentamt.

OLG Braunschweig – KapMuG-Verfahren VW: An diesem Dienstag muss Ex-VW-Konzernchef Herbert Diess im KapMuG-Verfahren vor dem Oberlandesgerichts Braunschweig aussagen. Seine Amtsvorgänger Mattias Müller und Martin Winterkorn sind für den 7. Februar bzw. den 14./15. Februar geladen. In dem KapMuG-Verfahren geht es um mögliche Schadensersatzansprüche von Investor:innen gegen den Volkswagen-Konzern wegen des Dieselskandals. LTO berichtet.

LSG Nds zu Assistenz für Abgeordneten im Rollstuhl: Wie die taz-nord und beck-aktuell melden, hat ein im Rollstuhl sitzender Abgeordneter keinen Rechtsanspruch auf eine Arbeitsassistenz, selbst wenn unstrittig Hilfe benötigt wird. Das entschied das Landessozialgericht Niedersachsen im Eilverfahren. Die Abgeordnetentätigkeit sei kein Arbeitsplatz im Rechtssinne, für das die Bundesagentur für Arbeit zuständig wäre. Deshalb müsse die Finanzierung der Arbeitsassistenz abgeordnetenrechtlich geregelt werden.

LG Münster zu OneCoin: Anlässlich der letzte Woche ergangenen teils mehrjährigen Haftstrafen gegen Mitarbeiter:innen der "Kryptoqueen" Ruja Ignatova vor dem Landgericht Münster zeichnet die SZ (Philipp Bovermann) in einer Seite-Drei-Reportage die Hintergründe des Milliardenbetrugs nach. Der Aufenthaltsort von Ignatova selbst ist unbekannt, sodass ihr noch kein Prozess gemacht werden kann.

AG Bad Segeberg – Justizirrtum/Bußgeld: Die SZ (Annette Ramelsberger) beschreibt den kafkaesken Fall des Thomas Wiegold, der – Google-Recherchen der Kaltenkircher Polizei zufolge – angeblich mit seinem Auto ein Bußgeld verursacht haben soll. Dabei hat er weder ein Auto, noch wohnt er in Schleswig-Holstein. Tatsächlich fuhr ein Mitarbeiter eines anderen Wiegolds zu schnell, was die Polizei jedoch nicht zu neuen Nachforschungen antrieb. Ein Amtsrichter wird nun nach Aktenlage – daher vermutlich zulasten des falschen Thomas Wiegold – über den Fall entscheiden.

Corona-Medikamente-Betrug: Nun berichten auch FAZ (Anna-Sophia Lang), taz-berlin, spiegel.de und bild.de (Marta Ways) über den illegalen Weiterverkauf des kostenlosen Corona-Medikaments Paxlovid durch einige deutsche Apotheken ins Ausland. Nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft gehe man derzeit von einem Schaden in Höhe von drei Millionen Euro aus.

Recht in der Welt

IGH/Israel – Krieg in Gaza: Deutschland plant, dem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof um den Völkermord-Vorwurf gegen Israel im Falle eines Hauptverfahrens als Drittpartei zugunsten Israels beizutreten. Die Bundesregierung begründet die geplante Nebenintervention mit der besonderen historischen Verantwortung für Israel und möchte der "politischen Instrumentalisierung" der Völkermordkonvention "entschieden entgegentreten", so Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Es berichtet LTO.

Rechtsprofessor Kai Ambos erläutert in der Welt, dass vor dem IGH nur Staaten zur Verantwortung gezogen werden können, was im vorliegenden Fall "zu der erstaunlichen Situation führt, dass nur eine Konfliktpartei (Israel) vor Gericht steht, obwohl der Genozidvorwurf gegen die andere (Hamas) mit größerer Überzeugungskraft vorgebracht werden kann". Die südafrikanische Darlegung der genozidalen Absicht durch Verweis auf Stellungnahmen israelischer Politiker:innen hält Ambos teilweise für unvollständig und aus dem Kontext gerissen. Hingegen "hätten die rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich schon längst aus dem Kabinett entlassen werden müssen" – andernfalls "setzt Israel sich dem Vorwurf aus, nicht entschlossen genug gegen Äußerungen vorzugehen, die als Aufstachelung zum Genozid bewertet werden können".

Rechtsprofessor Itamar Mann zeigt im Verfasssungsblog (in englischer Sprache) auf, wie möglicherweise eine Entscheidung des IGH aussehen könnte, die keine Beendigung der israelischen Kriegshandlungen verlangt. Denkbar sei, dass der IGH Israel nur auffordert, Maßnahmen zur Sicherstellung des Zugangs humanitärer Mittel für die Menschen in Gaza zu ergreifen und Ermittlungen gegen Israelis einzuleiten, die zum Genozid aufstacheln. Mann bezeichnet eine derartige "softere" Entscheidung als "counter-genocidal governance". Allerdings könnte Israel dies als Legitimation nehmen, den niedrigschwelligen Konflikt und die andauernden Völkerrechtsverletzungen in Hinblick auf die illegale Besetzung von Land und die illegalen Siedlungen fortzuführen.

Türkei – israelischer Fußballspieler: Der israelische Fußballspieler Sagiv Jehezkel, der bei einem türkischen Erstligisten spielt, wurde kurzzeitig festgenommen und des Landes verwiesen, weil er nach einem Tor seinen bandagierten Arm mit der Aufschrift "100 Tage – 7.10" und einem Davidstern in eine Kamera hielt. Mit der Aktion wollte er an die Opfer der Hamas-Attacke erinnern. Die türkische Generalstaatsanwaltschaft ermittelt nun wegen "öffentlicher Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit" gegen den Fußballer. Er habe das "Massaker" Israels gegen die Palästinenser im Gaza-Streifen gerechtfertigt. Es berichten SZ (Raphael Geiger)FAZ (Friederike Böge/Christian Meier), taz (Johannes Kopp), Welt, LTO, spiegel.de und bild.de (René Garzke).

Iran – Menschenrechtlerinnen: Die iranische Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi wurde von einem Revolutionsgericht der Islamischen Republik Iran erneut zu einer Haftstrafe verurteilt. Demnach muss Mohammadi nach Berechnung von spiegel.de und bild.de (Karen von Guttenberg) nun insgesamt mehr als zwölf Jahre in Haft, bekommt 154 Peitschenhiebe und darf zwei Jahre lang nicht in Teheran leben.

Außerdem eröffnete die Islamische Republik einen Tag nach ihrer Haftentlassung ein neues Strafverfahren gegen die iranischen Journalistinnen Nilufar Hamedi und Elaha Mohammadi, weil sie sich ohne Kopftuch zeigten. Hamedi hatte als erste Journalistin über den Fall von Jina Mahsa Amini berichtet. Die FAZ (Friederike Böge) berichtet.

Polen – Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit: Der polnische Präsident Andrzej Duda verweigert nach Angaben der FAZ (Gerhard Gnauck) die erforderliche schriftliche Billigung des neuen Landesstaatsanwalts  Jacek Bilewicz, der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts und Vorgesetzer aller übrigen Staatsanwält:innen im Land wäre. Polens Ministerpräsident Donald Tusk zeigte Entschlossenheit und kündigte an, "die Rechtsordnung wiederherstellen, ob das jemandem gefällt oder nicht."

Italien – Amtsmissbrauch: Die FAZ (Matthias Rüb) stellt die italienischen Pläne zur Abschaffung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs vor. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde letzte Woche mit großer Mehrheit im Justizausschuss des Senats angenommen. Begründet wird der Abschaffungsbedarf damit, dass Lokalpolitiker:innen aus Sorge vor einer Anklage faktisch an ihrer Amtsausübung gehindert würden. Kritiker:innen befürchten hingegen, dass in Italien dadurch viele Formen der Korruption entkriminalisiert würden.

USA – Meta/Nutzermanipulation: Privatdozent Michael Denga gibt auf beck-aktuell die im November im US-Staat Kalifornien eingereichte Klage von 42 Generalstaatsanwält:innen gegen den Facebook-Konzern Meta wegen der Manipulation von Nutzer:innen wieder. Abzuwägen seien grundsätzliche Freiheitsrechte mit staatlichen Schutzpflichten.

Sonstiges

Grundrechtsverwirkung von Björn Höcke: Anlässlich der breit unterstützten Petition, die den Entzug von Grundrechten und der Wählbarkeit von Björn Höcke (AfD) fordert, stellen nun auch FAZ (Stephan Klenner), Tsp (Charlotte Greipl) und tagesschau.de (Max Brauer) die rechtlichen Rahmenbedingungen der Grundrechtsverwirkung vor. Diese ist Teil der wehrhaften Demokratie und soll daher nicht als Strafe fungieren, sondern die Demokratie vor Gefährder:innen schützen. Die Voraussetzungen für die Grundrechtsverwirkung sind hoch. Seit Bestehen der Bundesrepublik gab es zwar schon vier Verfahren nach Art. 18 GG, allerdings hat das Bundesverfassungsgericht bislang noch nie eine Grundrechtsverwirkung ausgesprochen. 

 

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LTO/lh/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 16. Januar 2024: Plädoyer gegen Cum-Ex-Anwalt / Juristische Verbände gegen "Remigration" / Deutschland will Israel vor dem IGH helfen . In: Legal Tribune Online, 16.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53641/ (abgerufen am: 30.04.2024 )

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