Die juristische Presseschau vom 21. Juli 2020: Corona-Ent­schä­di­gung vom Bund? / Pro­zess gegen Halle-Atten­täter beginnt / Keine GBA-Ermitt­lungen zu NSU 2.0

21.07.2020

Über 800 Unternehmen wollen den Staat auf Corona-Entschädigung verklagen. Heute beginnt die mündliche Verhandlung gegen den Attentäter von Halle und der Generalbundesanwalt wird vorerst keine eigenen Ermittlungen zum "NSU 2.0" durchführen.

Thema des Tages

Corona – Entschädigungsklagen: Die Kanzlei Gansel aus Berlin plant eine Massenklage gegen den Staat, bei der sie Entschädigungszahlungen für Verluste wegen der Corona-Pandemie von Unternehmen vor allem der Hotel- und Gastronomiebranche erreichen möchte. Tausende Betriebe sollen so auf Staatskosten gerettet werden. Rechtlich will sich die Kanzlei laut zeit.de (David Gutensohn) auf zwei in den letzten Monaten immer wieder kontrovers diskutierte Argumentationslinien berufen. Das Infektionsschutzgesetz sei für diese Art der Entschädigung durchaus einschlägig und entgegenstehende Formulierungen seien "legislative Fehler", die dem Anspruch nicht entgegenstünden. Notfalls soll auch die Figur des sogenannten Sonderopfers geltend gemacht werden können. Mithilfe von Legal-Tech soll eine große Kläger-Datenbank entstehen, bei der sich Unternehmer dem Verfahren anschließen können. Die Masse der Verfahren ermögliche es der Kanzlei, schnell Rückschlüsse für eine allgemeine Prozessstrategie zu entwickeln. Derzeit seien bereits mehr als 800 Restaurants, Bars und Hotels zu einer Klage gegen den Staat bereit.

Rechtspolitik

Tonaufzeichnungen im Gerichtssaal: Auf lto.de plädieren Boris Burghardt und John Philipp Thurn für eine Anpassung der seit April 2018 bestehenden Regelung für Tonaufnahmen im Gerichtssaal zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken. Die beiden Vertreter des Vereins "Forum Justizgeschichte e.V." schlagen vor, einer außer-justiziellen Stelle das Recht einzuräumen, Verfahren zur Aufzeichnung vorzuschlagen. Hierfür käme etwa das jeweils zuständige Landes- oder Bundesarchiv in Frage.

"Rasse" und Grundgesetz: Rechtsprofessor Mathias Hong (verfassungsblog.de) widmet sich der Entwicklung des Gleichheitssatzes von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 bis hin zur heutigen Ausgestaltung des Grundgesetzes und der Diskussion über den Begriff der "Rasse" darin. Im ersten Teil des insgesamt fünfteiligen Beitrags geht er auf die Äußerungen Hermann v. Mangoldts im Parlamentarischen Rat ein. Trotz der "krassen, rassistischen Aussagen" habe dieser mehrfach die Dynamik und Beweglichkeit der Grundrechte sowie ihre Entwicklungsfähigkeit betont.

StVO-Novelle und Fahrverbote: Die taz (Christian Rath) gibt einen Überblick zur aktuellen Rechtslage bei der StVO-Novelle, die wegen eines Formfehlers teilweise nichtig ist. Bund und Länder hätten sich inzwischen geeinigt, den gesamten dritten Artikel der Novelle für nichtig zu erachten. Erfasst sind damit nicht nur die verschärften Fahrverbote, sondern auch die verschärften Bußgeld-Regelungen. Die meisten Länder wollen die Änderungen am Bußgeldkatalog bald wieder anwenden, Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) tritt jedoch für eine Abmilderung ein. Für Christoph Erdmenger, Abteilungsleiter im baden-württembergischen Verkehrsministerium, sind die verschärften Fahrverbotsregelungen keineswegs "unverhältnismäßig". Im Interview mit der taz (Christian Rath) plädiert er für deren Wiedereinführung und verweist insbesondere auf die niedrige Anzahl an Verkehrstoten in Ländern mit vergleichsweise harten Sanktionen.

Das Land Brandenburg hat laut FAZ (Markus Wehner) nun per Gnadenerlass alle rechtskräftigen Bußgeldbescheide aufgehoben, bei denen die Sanktionen über dem Niveau des alten Bußgeldkatalogs lagen. Die Bescheide werden nun korrigiert und neu zugestellt.

Revisionsfristen: Über den Vorschlag des Deutschen Anwaltvereins (DAV), die Fristen für Revisionsbegründungen anzupassen, schreibt nun auch lto.de. "Extrembeispiele" wie das 3.025 Seiten umfassende NSU-Urteil werfen ein grelles Licht auf den Missstand der geltenden Rechtslage, so der DAV in einer Stellungnahme. Unter anderem fordert der DAV nun also eine Verlängerung der derzeit noch starren Monatsfrist zur Revisionsbegründung.

EU-Kompetenzgericht: Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolf spricht sich im Hbl gegen die Einrichtung eines EU-Kompetenzgerichtshofes aus. Für sie gibt es keinen Grund zu glauben, dass die derzeitigen Vorbehalte nationaler Verfassungsgerichte sich nicht genauso gegen eine letztverbindliche Auslegung von Unionsrecht durch eine neu geschaffene Instanz richten würden.

Justiz

OLG Naumburg – Angriff auf Synagoge Halle: Am heutigen Dienstag beginnt die mündliche Verhandlung gegen Stephan B. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Naumburg. Er soll am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet zur Synagoge in Halle gefahren sein, um dort ein Massaker anzurichten. Als ihm das nicht gelang, tötete er mehrere Passanten. focus.de (Göran Schattauer) schreibt über die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen für den Prozess, der bis zum 14. Oktober 2020 dauern soll. Neben Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind auch Maßnahmen zur störungsfreien Durchführung der Verhandlung vorgesehen. So wurde etwa ein Verbot erlassen gegen das "demonstrative Vorzeigen" von Symbolen oder Darstellungen "politischer, weltanschaulicher oder religiöser Bekenntnisse".

Ronen Steinke (SZ) widmet sich im Leitartikel der übergeordneten Bedeutung des Tatmotivs des Angeschuldigten. Dessen antisemitische Ideologie würde heutzutage "nicht nur durch anonyme Internethetzer bestärkt, sondern auch durch Menschen, die Abgeordnetendiäten beziehen und Businesskostüm oder Hundekrawatte tragen".

GBA – Rechtsextreme Drohmails: Der Generalbundesanwalt wird trotz neuer rechtsextremer Drohmails mit der Unterschrift "NSU 2.0" vorerst nicht die Ermittlungen übernehmen. Die bisherigen Erkenntnisse hätten nicht ergeben, dass der GBA die Ermittlungen und die Strafverfolgung in eigener Zuständigkeit durchführen dürfte, wird ein Sprecher auf lto.de und in der FAZ (Marlene Grunert) zitiert. Zahlreiche Politiker, überwiegend Frauen, sowie andere Personen des öffentlichen Lebens hatten in den vergangenen Wochen Drohmails mit der Unterschrift "NSU 2.0" erhalten.

BGH zu "Sharia-Police": Der Bundesgerichtshof hat die Revisionen sämtlicher sieben Angeklagten im Fall der "Shariah Police" verworfen. Laut lto.de sind damit die Verurteilungen zu Geldstrafen wegen Verstoßes gegen das Uniformverbot nach dem Versammlungsgesetz bzw. Beihilfe hierzu rechtskräftig. Die Angeklagten waren den Feststellungen des Landgerichts Wuppertal zufolge im September 2014 in Warnwesten mit der Aufschrift "Sharia Police" durch die Wuppertaler Innenstadt patrouilliert, um junge Muslime davon abzuhalten, Spielhallen, Bordelle oder Gaststätten aufzusuchen sowie Alkohol zu konsumieren.

OLG Frankfurt/M. zu MyTaxi-App: Die App MyTaxi muss verhindern, dass Beförderungsaufträge an ortsfremde, nicht konzessionierte Taxifahrer vermittelt werden. Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. urteilte laut lto.de nun, dass das Unternehmen verantwortlich sei für den Verstoß gegen das Personenbeförderungsesetz eines nicht konzessionierten Taxiunternehmens. Ein Wiesbadener Taxi hatte sich im März 2018 in Frankfurt aufgestellt, über die App wurde dann eine Fahrt eines Frankfurter Fahrgastes vermittelt.

KG Berlin zu beA-Ausdrucken: Eigentlich farbige Schriftsätze aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach werden von der Gerichtsverwaltung des Landgerichts Berlin teilweise für die Papierakten noch in schwarz-weiß ausgedruckt. Diese Praxis ist nach Ansicht des Kammergerichts aber rechtlich nicht haltbar, berichtet lto.de.

LG Hamburg – KZ-Wachmann Stutthof: Das letzte Wort stand dem Angeklagten Bruno D. zu. Er nutzte es, um sich bei denen, die durch "die Hölle des Wahnsinns" gegangen sind sowie bei deren Angehörigen zu entschuldigen. Erst im Prozess sei ihm das ganze Ausmaß der Grausamkeiten bewusst geworden. Bruno D. ist wegen der Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen angeklagt. Die FAZ (Matthias Wyssuwa), taz (Andreas Speit) und spiegel.de (Julia Jüttner) berichten über das Schlusswort Bruno D.s sowie das Plädoyer seines Strafverteidigers, der darin einen Freispruch für D. forderte. Am Donnerstag soll das Urteil verkündet werden.

LG Aachen – erfundene NSU-Nebenklägerin: Der Rechtsanwalt einer wohl erfundenen Nebenklägerin im Münchner NSU-Prozess steht von August an in Aachen unter anderem wegen Betruges vor dem Landgericht. In der Zeit von 2013 bis 2015 soll der Anwalt laut lto.de zu Unrecht Zahlungen von insgesamt mehr als 200.000 Euro dafür erhalten haben, ein angebliches Opfer des Nagelbombenanschlags vom Juni 2004 in der Kölner Keupstraße vertreten zu haben, das es in Wirklichkeit gar nicht gab.

LG Freiburg – Gruppenvergewaltigung: In der taz (Steve Przybilla) erscheint ein ausführlicher Bericht zu den bisher im Prozess gewonnenen Erkenntnissen zu den Vorgängen aus 2018, bei denen elf junge Männer vor einer Freiburger Diskothek nacheinander eine unter Drogeneinfluss stehende Studentin vergewaltigt haben sollen. Die Staatsanwaltschaft fordert unterschiedliche Strafen von bis zu fünf Jahren. Am Donnerstag soll das Urteil ergehen.

LG Berlin zu Hoteleinstufung: Nur weil eine Unterkunft bei Google etwa als "Vier-Sterne-Hotel" angezeigt wird, muss das nicht der offiziellen Hoteleinstufung durch den Hotel- und Gaststättenverband Dehoga entsprechen. Das Landgericht Berlin verbietet es Google, Unterkünfte bei Suchergebnissen als Sterne-Hotels zu bezeichnen, solange diese nicht offiziell vom Dehoga als solche ausgezeichnet wurden. Geklagt hatte die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs. lto.de und faz.net berichten.

StA München I – Wirecard: Der untergetauchte Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek wird dem Hbl (René Bender/Mathias Brüggmann) zufolge in der Nähe von Moskau in Obhut des russischen Militärgeheimdienstes GRU vermutet. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden haben ihn international zum Zugriff ausgeschrieben. Sollten die russischen Behörden Marsalek stellen können, müssten sie ihn dann auch nach Deutschland überstellen. Eine Pflicht der russischen Behörden, den konkreten Aufenthaltsort des Beschuldigten aktiv zu ermitteln, erwachse aus dem Auslieferungsrecht jedoch nicht, so der Kölner Strafverteidiger Nikolaos Gazeas.

StA Cottbus – Attila Hildmann: Die Staatsanwaltschaft Cottbus hat gegen den Verschwörungsideologen Attila Hildmann aufgrund von Äußerungen auf seinem Telegram-Channel wegen Volksverhetzung und Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten Ermittlungen eingeleitet. Das Berliner Landeskriminalamt hat zudem nach einer Demo-Ansprache vom Wochenende ein Ermittlungsverfahren gegen Hildmann wegen des Verdachts der Volksverhetzung und der Verharmlosung des Holocaust eingeleitet. Die Welt (Frederik Schindler) berichtet darüber hinaus über die Mord-Drohungen, die der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck aufgrund von Aussagen Hildmanns erhielt.

Recht in der Welt

USA – Glyphosat: Im Berufungsverfahren um das Urteil im ersten Prozess um angeblich krebserregende Unkrautvernichter mit dem Wirkstoff Glyphosat ist die Strafe für den Bayer-Konzern in den USA drastisch reduziert worden. Das zuständige Gericht in San Francisco senkte den Schadens- und Strafschadensersatz, den das Unternehmen dem Krebs-Opfer Dewayne Johnson zahlen muss, am Montag von ursprünglich 289 Millionen auf 20,5 Millionen Dollar (17,9 Millionen Euro). faz.net berichtet.

Frankreich – Carlos Ghosn: Der frühere Automanager Carlos Ghosn schlägt der französischen Justiz vor, ihn an seinem Aufenthaltsort Beirut im Libanon zu befragen. Sein Pass sei in den Händen des Generalstaatsanwalts im Libanon, da Japan einen internationalen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt habe. Eine Ausreise nach Frankreich könne er aus Sicherheitsgründen deshalb derzeit nicht antreten. Die SZ schreibt über die französischen Ermittlungen zur Veruntreuung von Geldern gegen Ghosn sowie über das Strafverfahren in Japan, dem er durch eine spektakuläre Flucht über die Türkei nach Beirut entkam.

Japan – Misshandlungen im Sport: Die private Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft Japan in einem aktuellen Bericht vor, dass Kinder und Jugendliche im Sport noch heute oft physisch und verbal misshandelt und manchmal auch sexuell missbraucht würden. Die FAZ (Patrick Welter) gibt einen Überblick über den Bericht.

Sonstiges

Stiftung Preußischer Kulturbesitz: In einem Gastbeitrag für die SZ schreibt die Rechtsprofessorin Sophie Schönberger über die kürzlich bekannt gewordene Empfehlung des Wissenschaftsrats, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu zerschlagen. Sie erläutert die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Stiftung und kommt zu dem Ergebnis, dass die vorgeschlagene Neustrukturierung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bundeskulturpolitik nicht in Einklang zu bringen seien.


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lto/jpw

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 21. Juli 2020: Corona-Entschädigung vom Bund? / Prozess gegen Halle-Attentäter beginnt / Keine GBA-Ermittlungen zu NSU 2.0 . In: Legal Tribune Online, 21.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42259/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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